Praktiker des Wing Chun (Wing Tsun) oder anderer Formen des Kung fu wissen, dass man jede Bewegung mit gerade soviel Kraft wie nötig ausführen soll. Das geht auf Daoismus und Buddhismus zurück, in denen jede Tätigkeit das richtige Atmen voraussetzt und dieses wiederum eine entspannte Körperhaltung.

(Wer tiefer in die Materie eindringen möchte, wird in den Publikationen des Sportpsychologen Horst Tiwald fündig, der sich viel mit fernöstlichen Kampfkunstarten und fernöstlicher Philosophie befasst hat.) Nicht gegen Widerstände zu handeln ist ein daostisches Prinzip, dass unter dem Namen Wu Wei auch eine politische Dimension hat.

Nun bin ich durch Zufall auf einen Bereich der Mathematik gestossen, der sich damit beschäftigt, den minimalen oder maximalen Energieaufwand der Natur zur Erreichung eines betimmten Zustandes zu berechnen. Die Grundlagen legte der Physiker und Mathematiker Giovanni Borelli (1608-1679) mit einer bedeutsamen Beobachtung.

Borelli nämlich war aufgefallen, dass die Natur ein Übermass an Anstrengung vermeidet und immer mit so wenig Kraftaufwand wie möglich an ihr Ziel zu gelangen versucht, was er an den Bewegungsabläufen der Tierwelt studierte. Die moderne Wissenschaft bestätigt also diese alte chinesische Weisheit.

Vor diesem Hintergrund versteht man vielleicht besser, warum Yip Man, der Urvater fast aller heute bekannten Wing Chun-Stile, seinen Schüler Bruce Lee einmal ermahnte, sich niemals den Problemen frontal entgegenzustellen, sondern sie zu meistern, indem man mit ihnen schwingt.

Das ist überhaupt die wesentlicbe Kunst und zentral in allen Übungen, die mit dem Begriff „Chi Sao“ verbunden sind. Wer Wing Chun praktiziert, weiss, dass das sehr viel schwerer ist, als es sich anhört. Womit wir wieder beim Ausgangspunkt wären.