Vor einiger Zeit hatte ich das Buch “Globaler Antisemitismus” des Sozialwissenschaftlers Samuel Salzborn auf meinem Schreibtisch liegen und doch eine Menge darin gefunden, das die Lektüre zu einer angenehmen machte. Salzborn argumentiert recht unideologisch. Zwar steht er der Frankfurter Schule nahe, aber er vermeidet es, die Verbrechen der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft der bürgerlichen Gesellschaft ans Bein zu binden.
Mit Hannah Arendt und Franz L. Neumann weist er darauf hin, dass völkische Vorstellungen auf die Herstellung einer homogenen Ordnung und gegen die bürgerlichen Nationalstaaten gerichtet waren, und attestiert dem (linken) Antiimperialismus und ihren Vordenkern Lenin und Mao, ein „völkisches Weltbild‟ zu haben und „im Kern ein antiemanzipatorisches Projekt‟ zu sein, das „objektiv mehr Gemeinsamkeiten mit rechten Weltbildern aufweist‟. Teile der postkolonialen Bewegung sind daher, wie Salzborn zutreffend festhält, zu Anhängern einer ethnopluralistischen Ideologie degeneriert, die sich darin mit der extremen Rechten trifft. (Soviel zum Thema Hufeisen-Theorie.)
Zuzustimmen ist Salzborn in seinem Urteil, dass Nationalismus nicht den Kern des Nationalsozialismus ausmacht, war dieser doch nicht national, sondern völkisch ausgerichtet, „so dass der antiimperialistische Antinationalismus letztlich dem Grundanliegen des nationalsozialistischen Antinationalismus entsprach: die modernen, liberalen Institutionen des Nationalstaates gering zu achten ihr die vormoderne Phantasie von Ethnien oder Völkern entgegenzustellen.‟ Zutreffend ist auch seine Feststellung, dass das moderne Prinzip der Staatsgrenze nicht nur ausgrenzende, sondern „im demokratischen Staat zu allererst eine emanzipative, integrative und freiheitliche Funktion‟ hat.
Das ist eine bemerkenswerte Entwicklung eines Wissenschaftlers, der von ganz links kommt und sich heute klar und deutlich im bürgerlichen Lager positioniert. Ich will hier nicht im einzelnen auf das Buch eingehen, das soll hier keine Rezension werden, auch kleinere Mängel liessen sich nennen. Einen Kritikpunkt aber will ich erwähnen, weil er mir schon in anderen Publikationen des Autors aufgefallen ist.
Denn mag Salzborn auch im bürgerlichen Lager angekommen sein, so bedient er sich doch, wie oben angesprochen, für die Deutung des Antisemitismus immer noch aus dem Arsenal der Frankfurter Schule, obwohl seine eigenen Erkenntnis mit einer ganz anderen Theorie kompatibel wäre, die er aber nicht zu kennen scheint.
Die Frage ist doch: Warum gerade die Juden? Warum suchen sich Verschwörungstheoretiker nicht eine andere Gruppe als Objekt ihres Wahns? Man kann alle möglichen soziologischen oder psychologischen Theorien bemühen, aber die Frage: Warum gerade die Juden?, können sie nicht beantworten. Man kann die Frage überhaupt nur schwer beantworten, will man dem Antisemitismus nicht auf den Leim gehen, indem man sich seine Prämissen zu eigen macht.
Die Antwort liefert Eric Voegelin, der im Antisemitismus das gnostische Element herausisoliert hat, womit er überzeugend erklären kann, warum gerade die Juden zum Objekt so zählebiger Verschwörungstheorien werden konnten. Voegelin, von Hause aus Politikwissenschaftler, wird bis heute zuvörderst mit dem Schlagwort von den “politischen Religionen” in Verbindung gebracht und das tut auch Salzborn in seinem älteren Buch “Kampf der Ideen”. Es ist der Voegelin-Rezeption bis heute weitgehend entgangen, dass jener sich in einer späteren Phase seiner wissenschaftlichen Tätigkeit vom Deutungsmuster der “politischen Religionen” verabschiedet hat, um sich der Erforschung der Gnosis in der Geschichte zu widmen.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, so schreibt Voegelin, sei Ideenhistorikern immer klar gewesen, dass es ein gnostisches Kontinuum von der Antike bis in die Gegenwart gibt, woraus sich die Frage ergibt, warum dieser Forschungsstrang Ende des 19. Jahrhunderts abgerissen ist. Voegelin erklärt dies mit dem Siegeszug der Natur- und Ingenieur- und mathematischen Wissenschaften während der Industriellen Revolution, der die Geisteswissenschaften dazu gebracht habe, sich methodisch diesen Wissenschaften anzunähern. Fortan kam es zu einem Aufstieg der empirischen Sozialforschung auf Kosten ideengeschichtlicher Forschung, was Voegelin für einen Irrweg hält.
Was also hat es mit der Gnosis auf sich? Die Gnosis, die antike Ursprünge hat, geht von einer Verschlechterung alles Irdischen aus, bedingt durch eine Entfremdung vom Göttlichen. Die Welt gilt dem Gnostiker als Ort des Verfalls und Rettung allein bringt ihm die reinigende Apokalypse, die alles Bestehende vernichtet, um seine Zukunftsvision Wirklichkeit werden zu lassen. Umberto Eco hat das Lebensgefühl des Gnostikers, dieses Hineingeworfen-Sein in eine ihm fremde Welt, trefflich beschrieben (Eco, “Die Grenzen der Interpretation”, S. 68-70).
Der Gnostiker will, sich als göttlichen Funken begreifend, zum Ursprung des Seins zurückkehren und die Welt von ihrem Grundübel befreien, das sich leicht mit dem Judentum identifizieren lässt. Schon die Hermetiker des Altertums kultivierten eine Art inneren Kampf zwischen Gut und Böse (s. Rüpke, “Pantheon”, S. 377). Das hat eine ganze Kette von Implikationen, wozu nicht zuletzt der Glaube an Verschwörungen gehört.
Hans Blumenberg hat einmal gesagt, die Gnosis habe “immer eine ganze Geschichte aus dem Keim der Metapher herausgezogen, ein ganzes System von Weiterungen und Erweiterungen, von Antworten auf Rückfragen und Nachfragen.“ (Blumenberg, “Theorie der Unbegrifflichkeit”, S. 80). Das wiederum hat der bereits erwähnte Umberto Eco literarisch in seinem Roman “Das Foucaultsche Pendel” zum Ausdruck gebracht, in dem er zeigte, wie jedes Geheimnis, gnostisch-hermetisch gedeutet, immer nur zu neuen Geheimnissen, Analogien und Querverweisen führt – eine Wahnwelt.
Um noch einmal auf Voegelin zurückzukommen: Dieser hatte die moderne Form der Gnosis vor allem in der Philosophie Hegels ausgemacht und definierte den Gnostiker als Fürsprecher eines Seins, das aus der Zukunft kommt. (“Wissenschaft, Politik und Gnosis”, S. 54, 57). Charakteristisch für die Neognostiker seiner Zeit sei ihre Neigung, Traum und Wirklichkeit zu vermischen. Anstatt in der Welt der Wirklichkeit zu handeln, griffen sie zu “magischen Operationen in der Traumwelt” (Voegelin, “Die neue Wissenschaft der Politik”, S. 234).
Wie sehr der Nationalsozialismus von der Gnosis durchdrungen war, hat der Philosoph und Religionshistoriker Harald Strohm (“Die Gnosis und der Nationalsozialismus”) gezeigt. Auch das Herrenmenschendenken ist gnostischen Ursprungs: „Die Gnosis ist nicht wie das Christentum eine Religion für die Sklaven, sondern eine Religion für die Herren”, schreibt Eco („Das Irrationale gestern und heute“, S. 20). Ich selbst habe mich dazu bzw. zum Verhältnis von Antisemitismus und Gnosis ausführlich in meinem Buch “Zwischen Religion und Politik” geäussert.
Salzborn scheint aber die gesamte Forschung zum Thema Antisemitismus und Gnosis unbekannt zu sein; jedenfalls glaube ich nicht, dass er sie nur deshalb nirgends erwähnt, weil er nichts von ihr hält. Das wäre, erstens, kein Grund, und zweitens schon deshalb nicht plausibel, weil er selbst von antisemitischen “Verschwörungsphantasien” einer vermeintlich “regredierten Welt” (S. 201) schreibt und damit eigentlich auf der richtigen Spur ist. Diese Leerstelle in seiner Publizistik ist jedenfalls recht irritierend.
So, damit ist dieser Beitrag viel länger geworden als geplant, wo ich hier doch nur einige Fundstücke und Gedanken zum Besten geben wollte! Vielleicht wird er ja dennoch goutiert.