Orientalist & Author

Category: In eigener Sache

Mitteilungen aus dem Denklabor (4) – Die Wonnen des Habañero

“Wahre Chilifans”, schreibt Amal Naj in seinem Buch “Scharfe Sachen”, “hegen nicht nur eine Vorliebe für scharfe Sachen – sie werden von einem regelrechten Verlangen getrieben. (…) Sie stöhnen wohlig ‘Ah!’, wenn sie in eine knackige Schote beissen. Und während sie noch schniefen und nach Luft ringen, verlangen sie schon nach mehr, damit die Wogen der süssen Qual nicht allzu rasch verebben.”

Das kann ich nur bestätigen. Nach Luft zu ringen, die brennende Schärfe auf der Zunge zu spüren und das Essen dabei zu geniessen – das ist mitnichten ein Widerspruch, zumal der Geschmack von den Schoten auch keineswegs übertüncht wird. Chili flutet die Sinne und macht selbst fades Essen zum Hit.

Tatsächlich lässt sich die Sucht nach dem Chili chemisch leicht erklären: Es ist das in der Frucht enthaltene Capsaicin, das dem Gehirn den Eindruck vermittelt, die Zunge würde verbrennen, wie durch Feuer oder Säure, wodurch der Organismus Endorphine ausschüttet, eine Art körpereigenes Schmerzmittel. Je schärfer das Chili wirkt, desto stärker die Ausschüttung von Endorphinen.

Vergessen Sie die daher Jalapeños! Viel schärfer sind Habañeros, die ganz oben in der Taxonomie der scharfen Pfefferschoten stehen. Bei Zubereitung und Genuss sollte man aber ein paar Dinge beachten. Das Zeugt steigt einem nämlich leicht in die Nase und sobald man einen Niesreiz verspürt, schluckt man es am besten schnell hinunter oder spuckt es aus, anderenfalls zieht man es in die Luftröhre, was sehr unangenehm werden kann und einen für einige Minuten in Agonie versetzt.

Vor der Zubereitung sollte man die Schoten unter kaltem Wasser abspülen, wobei die Betonung auf “kalt” liegt. Warmes Wasser nämlich löst die scharfen Bestandteile aus dem Fruchtfleisch und das kann ebenfalls sehr unangenehm werden. Das gilt auch für Schoten, die in der prallen Sonne gelegen haben, bevor man sie zubereitet. Mir ist das einmal vor Jahren passiert. Danach haben meine Hände dermassen gebrannt, dass ich mehrere Stunden immer wieder meine Hände kühlen musste, um den pochenden Schmerz zu lindern.

Ich schnappte nach Luft. Um meinen Kreislauf zu stabilisieren und einen Kollaps zu vermeiden, bin ich dann vier Mal um den Häuserblock gehechtet. Danach ging es mir besser. Merke: Diese Habañeros sind nicht ohne! Zur Vorsicht verwende ich seitdem nur Handschuhe bei der Zubereitung. Aber selbst damit wasche ich die Schoten nur kalt ab, weil bei warmem Wasser die Schärfe durch die Plastikhandschuhe dringt.

Wer Habañeros kaufen will, wird nur in wenigen Läden fündig. In arabischen oder türkischen Supermärkten sind sie nicht zu finden, in deutschen nur selten und wenn, dann abgepackt in geringer Menge für teures Geld, während man für denselben Betrag beim Inder oder Afrikaner einen ganzen Beutel bekommt. (“Pass auf dich auf und viel Spass mit scharf!”, pflegt mein indischer Chili-Dealer zum Abschied zu sagen.) Man kann die Dinger auch selbst züchten, aber meine Erfahrung ist da weniger gut, seitdem ein Schädling meine Pflanze vernichtet hat.

Dieses kulinarische Wunder der Habañeros jedenfalls haben wir den Mayas zu verdanken, die sie schon vor achttausend Jahren im Gebiet des heutigen Mexiko konsumiert haben, und natürlich Kolumbus, der die wunderbare Schote in die Alte Welt brachte, von wo aus sie sich über die ganze Erde verbreitete und vor allen in Teilen Asiens und Afrikas fester Bestandteil der Küche wurde. Ich selber, obwohl ich schon seit meiner Jugendzeit sehr scharf esse, habe die Freuden des Chili so richtig erst vor fünfzehn Jahren durch einen kamerunischen Freund kennengelernt.

Er findet das bis heute amüsant, dass ich als Nichtafrikaner jeden Tag Chilis esse und bittet mich mit schönster Regelmässigkeit, wenn Afrikaner zugegen sind, ihnen davon zu berichten, wie ich sie zubereite und esse (also die Chilis, nicht die Afrikaner). Hier, schaut her, ein Deutscher, ein Weisser, der isst wie ein Afrikaner, haha.

Ich könnte an dieser Stelle nun weit ausholen und etwas über die Segnungen von Globalisierung und Proto-Globalisierung am Beispiel der Habañeros erzählen, aber hebe mir das für ein anderes Mal auf und präsentiere stattdessen mein Geheimrezept mit präzisen Mengenangaben für alle, die noch nicht auf den Geschmack gekommen sind. Das Ergebnis eignet sich für alle Arten von Fleisch und Fisch und selbst als Dip:

1 – Man nehme eine beliebige Anzahl von Schoten, wasche sie unter kaltem Wasser und schneide Strunk und Stiele ab. (Ich schneide die Dinger ausserdem auf, um eventuell faulige Stellen auszumachen, aber auch um sicherzugehen, dass keine Raupe im Inneren ist, wie ich es vor Jahren einmal erlebt habe.)

2 – Dann gebe man eine Knoblauchzehe hinzu …

3 – … und nach Gefühl jede Menge fette Brühe oder Delikatessbrühe.

4 – Anschliessend wird das ganze ordentlich mit Sonnenblumenöl übergossen …

5 – … und in der Maschine püriert.

Fertig! Das Ergebnis ist die pure Lust, lässt einen schniefen und nach Luft ringen und nie mehr los.

In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern: Scharfe Ostern!


Nachtrag 24. April 2020

Lehrreich und unterhaltsam: Einer China-Vloggerin zuzusehen, wie sie scharfes Chili-Öl zubereitet und zeigt, wie man es in der chinesischen Küche benutzt. (NB: Auf ihrem T-Shirt steht 老外 lǎo wài, zu Dt. “Ausländerin”.)

Nachtrag 15. Juli 2021

Der Schriftsteller Claude Cueni hat ein kleines Lob auf den Chili verfasst.

Mitteilungen aus dem Denklabor (3) – Was ein katholischer Theologe so über den Islam denkt

Geht es um den interreligiösen Dialog, dann wird es gern idealistisch. Überhaupt stelle ich immer wieder fest, wie ihre Verfechter häufig so tun, als gäbe es, sobald es um den Islam geht, nur den Koran und eine Vielzahl von Auslegungen – ganz so, als habe es nie eine tausendjährige Theologie gegeben, wobei wir hier das Wort Theologie in Ermangelung eines passenderen Begriffs verwenden, haben sich doch die muslimischen Rechtsgelehrten immer als Juristen begriffen.

Wenn von islamischer Theologie die Rede ist, dann ist meist die sunnitische gemeint, wie auch die überwältigende Mehrzahl der Muslime, 85 bis neunzig Prozent, dem sunnitischen Islam angehören. Eines der Kennzeichen des sunnitischen Islam ist, dass er den ra’y aus dem Instrumentarium der Urteilsfindung ausgeschlossen hat. Bevor wir dazu kommen, was mit “ra’y” gemeint ist, wollen wir etwas zurück in die Geschichte gehen.

Nach dem Tode des Propheten hatten die Muslime nur den Koran und noch keine kanonisierte Lesart. Da der Koran ein ziemlich dünnes Buch ist, liefert er auf eine Vielzahl von Fragen keine Antworten. Wer eine arabische oder zweisprachige Ausgabe in seinem Regal neben der Bibel stehen hat, täuscht sich leicht: Der Koran scheint nur etwa ein Drittel weniger Umfang zu haben als die Bibel, in Wirklichkeit aber ist der Unterschied viel grösser.

Während Ausgaben der Bibel zumeist auf Dünndruckpapier soviel Text pro Seite wie möglich unterzubringen bestrebt sind, enthalten Koranausgaben im arabischen Original meist nur wenige Sätze pro Seite (vgl. Baker 2007, passim), was ihre Seitenzahl aufbläht. Zählt man hingegen die Wörter, kommt man, je nach Methode, auf weit über 700.000 bei der Bibel, auf über 70.000 beim Koran. Der Koran hat also ungefähr ein Zehntel des Umfanges der Bibel. Dass genauere Angaben schwierig sind, weil nicht immer klar ist, was als einzelnes Wort gezählt werden soll, muss uns hier nicht weiter beschäftigen.

Die muslimischen Gelehrten der frühen Zeit jedenfalls hatten immer, wenn sie auf Grundlage des koranischen Textes keine Antwort auf eine juristische Frage zu geben wussten, ihre individuelle Vernunft, man könnte auch sagen: ihren gesunden Menschenverstand, ins Spiel gebracht, also ihre Meinung geäussert, auf Arabisch: “ra’y”. Da unterschiedliche Gelehrte unterschiedliche Meinungen hatten, bildeten sich lokal unterschiedliche Schulen aus.

Das klingt aus heutiger Sicht sehr fortschrittlich weil pluralistisch, aber diese Schulen lagen zum Teil im Clinch miteinander und es würde hier zu weit führen, die weltpolitischen Hintergründe und theologischen Verschlingungen im einzelnen anzuführen, die daraus folgten. Relevant in diesem Zusammenhang ist nur, dass innerhalb der Gelehrtenschaft schon bald eine Strömung dominieren sollte, deren Programm die Vereinheitlichung der Rechtsfindung war. Einer der Vordenker dieser Strömung war ein Mann namens aš-Šāfiʿī (767-819), der massgeblich dazu beigetragen hat, den ra’y aus der Methodik der Rechtsfindung auszuschliessen.

Wie Nasr Hamid Abu Zaid (1992, passim) schreibt, warf das nun ein ganz erhebliches Problem auf: Wenn muslimische Juristen nicht mehr von ihrer persönlichen Ratio Gebrauch machen sollten, würden sie auf viele Fragen keine Antworten mehr geben können. Abhilfe schaffen sollte nach aš-Šāfiʿīs Vorstellung daher die Prophetentradition, also die zu seiner Zeit angefertigten Sammlungen von Überlieferungen über Worte und Taten des Propheten.

Der arabische Begriff für Prophetentradition lautet “sunna”, wörtlich: “Tradition”; die einzelnen Überlieferungen nennen sich Hadithe und zusammen sind sie um ein Vielfacher umfangreicher als der Koran. Fanden die Rechtsgelehrten also im Koran keine Antwort auf eine Frage, konnten sie fortan die Hadithe zu Rate ziehen. Aš-Šāfiʿī selber ist Begründer einer der vier kanonischen Rechtsschulen im sunnitischen Islam, aber auch die anderen drei haben seine Programmatik übernommen.

Halten wir an dieser Stelle fest, welche tiefgreifenden Änderungen die muslimische, d.h. sunnitische Theologie seit aš-Šāfiʿī durchgemacht hat: Erstens wird das Individuum aus dem Rechtsfindungsprozess ausgeschlossen; diese soll nach streng wissenschaftlichen Prinzipien ablaufen. Zweitens soll eine Vielfalt an Auslegungen nach Möglichkeit reduziert werden.

Warum galt eine Vielfalt der Auslegungen als Problem? Dafür mag es mehr als einen Grund geben, aber zu dieser Ansicht beigetragen haben dürfte der Umstand, dass in Koran und Sunna Vielfalt allgemein nicht eben positiv konnotiert ist. So gibt es die Vorstellung, dass der Islam in 72 oder 73 Sekten zerfallen werde, von denen nur eine gerettet werde. (Schimmel 1995, S. 262) Der Islamwissenschaftler Tilman Nagel (2014, S. 349) urteilt: „Die Pluralität von Ansichten und Anschauungen ist laut Koran eine verhängnisvolle Folge der teilweisen oder vollständigen Abwendung von der Anleitung durch Allah, vom Wissen schlechthin.“

Was ist nun mit dem vielzitierten Hadith “Die Meinungsverschiedenheit in der Gemeinde ist eine Gnade” (iḫtilāfu l-ummati raḥmatun)? Der Korankenner Rudi Paret (1979, S. 524-5) hat schon vor langer Zeit darauf hingewiesen, dass dieser Ausspruch des Propheten im völligen Widerspruch zum Koran steht, in dem Meinungsverschiedenheiten immer im Kontext von Spaltung, Abweichung, Verfälschung genannt werden. Auch in den Hadithen, wie Paret schreibt, hat “iḫtilāf”, Differenz, eine negative Bedeutung. Paret hat daher angenommen, dass in diesem speziellen Fall das Wort für “Gnade” (raḥma) verstanden werden müsse i.S.v. Nachsicht. Als Loblied auf die Meinungsvielfalt ist dieser Hadith bestimmt nicht zu verstehen.

Das ist der Hintergrund an Wissen, den man haben muss, um die Aussagen eines Klaus von Stosch einordnen zu können. Der Paderborner katholische Theologe, der sich als Verfechter eines interreligiösen Dialogs und einer komparativen Theologie einen Namen gemacht hat, behauptet (von Stosch 2016, S. 105), in der Rechtsfindung aller Schulrichtungen des sunnitischen Islam spiele das persönliche Urteil des Richters (raʾy) und damit “faktisch die Rechtsfortbildung im Sinne des römischen Rechts eine grosse Rolle.‟

Das ist doppelter Unsinn. Der ra’y ist ja, wie wir gesehen haben, aus der Rechtsfindung ausgeschlossen worden und das dürfte auch der Grund gewesen sein, warum, anders als im christlichen Kontext, das Römische Recht nie formell in den Islam inkorporiert wurde (Weiss 1991: 245). Irgendeine analoge Entwicklung, wie von Stosch sie hier vorschwebt, hat wohl kaum stattgefunden, wie es auch keinen muslimischen Justinian gegeben hat, der kraft seines Amtes Rechtstexte kompiliert, verbessert und überarbeitet hätte (Nagel 2012, S. 17, Bretone 1992, S. 253). Im Gegenteil sollten die Hadithe ohne Wie und ohne Erläuterung für wahr gehalten werden, wie es in einem Abriss der sunnitischen Doktrin aus dem 10. Jahrhundert heisst (Nagel 1994, S. 226).

Wenn von Stosch (2016: 106) zudem behauptet, dass einem Hadith zufolge die Meinungsverschiedenheit innerhalb der Gemeinde als „ein Zeichen göttlicher Barmherzigkeit‟ gelte, dann ist das, wie wir ebenfalls gesehen haben, eine mehr als fragwürdige Annahme, die offensichtlich interessengeleitet ist. Unsinnig ist auch die These (ebd., S. 106), wonach sich erst in der Moderne mit der Salafiyya eine fundamentalistische Strömung entwickelt habe, “die diese Meinungsvielfalt nicht mehr aushält.‟ Sie ist schon deshalb falsch, weil, wie oben gezeigt, die Meinungsvielfalt zu minimieren schon das Ziel der frühen sunnitischen Gelehrten war. Davon hat von Stosch aber keine Ahnung, in dessen Buch der Name aš-Šāfiʿī daher auch nicht ein einziges Mal vorkommt.

Geistiger Pate dieser These von der Unterdrückung der Meinungsvielfalt im Islam erst durch die Salafiyya der Neuzeit ist natürlich der Münsteraner Arabist Thomas Bauer, auf den von Stosch sich auch explizit beruft (ebd., S. 16, 114) und über dessen Machwerk “Die Kultur der Ambiguität” ich mich mehrfach eingehend geäussert habe. Von Bauer übernommen hat er auch die Behauptung (ebd., S. 150), dass es im ganzen Mittelalter keine Steinigung im Islam gegeben habe. Dass dies möglich, aber unwahrscheinlich ist, habe ich ebenfalls an anderer Stelle ausführlich dargelegt.

Wie von Stosch (ebd., S. 110-1) sonst noch tickt, beweist sein Appell an die Leserschaft: „Die Ziele der Scharia … könnten auch unsere westlichen Gesellschaften zu mehr Gerechtigkeit ermutigen. Wenn man … sich vergegenwärtigt, wie weit wir in Deutschland noch von einem ganzheitlichen Wachstumsbegriff entfernt sind, … dann wird sofort deutlich, wie gut es uns auch im Westen täte, wenn die Grundsätze der Scharia besser umgesetzt würden.‟

Der gute alte Kulturpessimismus mit seiner empiriefreien Larmoyanz über die Marktwirtschaft gehört zum ideologischen Grundinventar geisteswissenschaftlicher Fakultäten und ist unmittelbar anschlussfähig an den Islamismus. Da passt es gut ins Bild, dass von Stosch sich vor zwei Jahren nicht zu schade war, für sein Buch einen Preis des islamistischen Regimes in Teheran anzunehmen. Dort pflegt man ein ganzheitliches Ökonomieverständnis unter Leitung eines religiösen Führers – mit allem, was dazugehört.

So folgt dem wissenschaftlichen Bankrott der moralische auf dem Fusse. Wenn das interreligiöser Dialog ist, dann ist er vor allem eines: Für die Tonne.


Literatur

Naṣr Ḥāmid Abū Zaid. 1992. الامام الشافعي وتأسيس الايديولوجية الوسطية. Kairo: Sīnā.

Colin F. Baker. 2007. Qur’an Manuscripts: Calligraphy, Illumination, Design. London: The British Library.

Mario Bretone. 1992. Geschichte des römischen Rechts: Von den Anfängen bis Justinian. München: C.H. Beck.

Tilman Nagel. 2012. Zu den Grundlagen des islamischen Rechts. Baden-Baden: Nomos.

–– 2014. Angst vor Allah? Auseinandersetzungen mit dem Islam. Berlin: Duncker & Humblot.

Rudi Paret. 1979. Innerislamischer Pluralismus. In: Die islamische Welt zwischen Mittelalter und Neuzeit: Festschrift für Hans Robert Roemer zum 65. Geburtstag, hrsg. von Ulrich Haarmann und Peter Bachmann. Beirut und Wiesbaden: Franz Steiner, S. 523-9

Annemarie Schimmel. 1995. Die Zeichen Gottes: Die religiöse Welt des Islams. München: C.H. Beck.

Klaus von Stosch. 2016. Herausforderung Islam: Christliche Annäherungen. Paderborn: Ferdinand Schöningh.

Bernard Weiss. 1991. Law in Islam and in the West: Some Comparative Observations. In: Islamic Studies presented to Charles J. Adams, hrsg. von Wael B. Hallaq and Donald P. Little. Leiden, New York, Kopenhagen und Köln: Brill.


Nachtrag 11. April 2020

Das angegebene Todesjahr von aš-Šāfiʿī war falsch und wurde von mir korrigiert (Angaben nach Kaḥḥāla).

Nachtrag 13. April 2020

Auf Twitter hat sich eine kleine Diskussion entspannt, wofür man immer dankbar ist.

Mitteilungen aus dem Denklabor (2) – Antisemitismus als Problem der Ideengeschichte

Vor einiger Zeit hatte ich das Buch “Globaler Antisemitismus” des Sozialwissenschaftlers Samuel Salzborn auf meinem Schreibtisch liegen und doch eine Menge darin gefunden, das die Lektüre zu einer angenehmen machte. Salzborn argumentiert recht unideologisch. Zwar steht er der Frankfurter Schule nahe, aber er vermeidet es, die Verbrechen der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft der bürgerlichen Gesellschaft ans Bein zu binden.

Mit Hannah Arendt und Franz L. Neumann weist er darauf hin, dass völkische Vorstellungen auf die Herstellung einer homogenen Ordnung und gegen die bürgerlichen Nationalstaaten gerichtet waren, und attestiert dem (linken) Antiimperialismus und ihren Vordenkern Lenin und Mao, ein „völkisches Weltbild‟ zu haben und „im Kern ein antiemanzipatorisches Projekt‟ zu sein, das „objektiv mehr Gemeinsamkeiten mit rechten Weltbildern aufweist‟. Teile der postkolonialen Bewegung sind daher, wie Salzborn zutreffend festhält, zu Anhängern einer ethnopluralistischen Ideologie degeneriert, die sich darin mit der extremen Rechten trifft. (Soviel zum Thema Hufeisen-Theorie.)

Zuzustimmen ist Salzborn in seinem Urteil, dass Nationalismus nicht den Kern des Nationalsozialismus ausmacht, war dieser doch nicht national, sondern völkisch ausgerichtet, „so dass der antiimperialistische Antinationalismus letztlich dem Grundanliegen des nationalsozialistischen Antinationalismus entsprach: die modernen, liberalen Institutionen des Nationalstaates gering zu achten ihr die vormoderne Phantasie von Ethnien oder Völkern entgegenzustellen.‟ Zutreffend ist auch seine Feststellung, dass das moderne Prinzip der Staatsgrenze nicht nur ausgrenzende, sondern „im demokratischen Staat zu allererst eine emanzipative, integrative und freiheitliche Funktion‟ hat.

Das ist eine bemerkenswerte Entwicklung eines Wissenschaftlers, der von ganz links kommt und sich heute klar und deutlich im bürgerlichen Lager positioniert. Ich will hier nicht im einzelnen auf das Buch eingehen, das soll hier keine Rezension werden, auch kleinere Mängel liessen sich nennen. Einen Kritikpunkt aber will ich erwähnen, weil er mir schon in anderen Publikationen des Autors aufgefallen ist.

Denn mag Salzborn auch im bürgerlichen Lager angekommen sein, so bedient er sich doch, wie oben angesprochen, für die Deutung des Antisemitismus immer noch aus dem Arsenal der Frankfurter Schule, obwohl seine eigenen Erkenntnis mit einer ganz anderen Theorie kompatibel wäre, die er aber nicht zu kennen scheint.

Die Frage ist doch: Warum gerade die Juden? Warum suchen sich Verschwörungstheoretiker nicht eine andere Gruppe als Objekt ihres Wahns? Man kann alle möglichen soziologischen oder psychologischen Theorien bemühen, aber die Frage: Warum gerade die Juden?, können sie nicht beantworten. Man kann die Frage überhaupt nur schwer beantworten, will man dem Antisemitismus nicht auf den Leim gehen, indem man sich seine Prämissen zu eigen macht.

Die Antwort liefert Eric Voegelin, der im Antisemitismus das gnostische Element herausisoliert hat, womit er überzeugend erklären kann, warum gerade die Juden zum Objekt so zählebiger Verschwörungstheorien werden konnten. Voegelin, von Hause aus Politikwissenschaftler, wird bis heute zuvörderst mit dem Schlagwort von den “politischen Religionen” in Verbindung gebracht und das tut auch Salzborn in seinem älteren Buch “Kampf der Ideen”. Es ist der Voegelin-Rezeption bis heute weitgehend entgangen, dass jener sich in einer späteren Phase seiner wissenschaftlichen Tätigkeit vom Deutungsmuster der “politischen Religionen” verabschiedet hat, um sich der Erforschung der Gnosis in der Geschichte zu widmen.

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, so schreibt Voegelin, sei Ideenhistorikern immer klar gewesen, dass es ein gnostisches Kontinuum von der Antike bis in die Gegenwart gibt, woraus sich die Frage ergibt, warum dieser Forschungsstrang Ende des 19. Jahrhunderts abgerissen ist. Voegelin erklärt dies mit dem Siegeszug der Natur- und Ingenieur- und mathematischen Wissenschaften während der Industriellen Revolution, der die Geisteswissenschaften dazu gebracht habe, sich methodisch diesen Wissenschaften anzunähern. Fortan kam es zu einem Aufstieg der empirischen Sozialforschung auf Kosten ideengeschichtlicher Forschung, was Voegelin für einen Irrweg hält.

Was also hat es mit der Gnosis auf sich? Die Gnosis, die antike Ursprünge hat, geht von einer Verschlechterung alles Irdischen aus, bedingt durch eine Entfremdung vom Göttlichen. Die Welt gilt dem Gnostiker als Ort des Verfalls und Rettung allein bringt ihm die reinigende Apokalypse, die alles Bestehende vernichtet, um seine Zukunftsvision Wirklichkeit werden zu lassen. Umberto Eco hat das Lebensgefühl des Gnostikers, dieses Hineingeworfen-Sein in eine ihm fremde Welt, trefflich beschrieben (Eco, “Die Grenzen der Interpretation”, S. 68-70).

Der Gnostiker will, sich als göttlichen Funken begreifend, zum Ursprung des Seins zurückkehren und die Welt von ihrem Grundübel befreien, das sich leicht mit dem Judentum identifizieren lässt. Schon die Hermetiker des Altertums kultivierten eine Art inneren Kampf zwischen Gut und Böse (s. Rüpke, “Pantheon”, S. 377). Das hat eine ganze Kette von Implikationen, wozu nicht zuletzt der Glaube an Verschwörungen gehört.

Hans Blumenberg hat einmal gesagt, die Gnosis habe “immer eine ganze Geschichte aus dem Keim der Metapher herausgezogen, ein ganzes System von Weiterungen und Erweiterungen, von Antworten auf Rückfragen und Nachfragen.“ (Blumenberg, “Theorie der Unbegrifflichkeit”, S. 80). Das wiederum hat der bereits erwähnte Umberto Eco literarisch in seinem Roman “Das Foucaultsche Pendel” zum Ausdruck gebracht, in dem er zeigte, wie jedes Geheimnis, gnostisch-hermetisch gedeutet, immer nur zu neuen Geheimnissen, Analogien und Querverweisen führt – eine Wahnwelt.

Um noch einmal auf Voegelin zurückzukommen: Dieser hatte die moderne Form der Gnosis vor allem in der Philosophie Hegels ausgemacht und definierte den Gnostiker als Fürsprecher eines Seins, das aus der Zukunft kommt. (“Wissenschaft, Politik und Gnosis”, S. 54, 57). Charakteristisch für die Neognostiker seiner Zeit sei ihre Neigung, Traum und Wirklichkeit zu vermischen. Anstatt in der Welt der Wirklichkeit zu handeln, griffen sie zu “magischen Operationen in der Traumwelt” (Voegelin, “Die neue Wissenschaft der Politik”, S. 234).

Wie sehr der Nationalsozialismus von der Gnosis durchdrungen war, hat der Philosoph und Religionshistoriker Harald Strohm (“Die Gnosis und der Nationalsozialismus”) gezeigt. Auch das Herrenmenschendenken ist gnostischen Ursprungs: „Die Gnosis ist nicht wie das Christentum eine Religion für die Sklaven, sondern eine Religion für die Herren”, schreibt Eco („Das Irrationale gestern und heute“, S. 20). Ich selbst habe mich dazu bzw. zum Verhältnis von Antisemitismus und Gnosis ausführlich in meinem Buch “Zwischen Religion und Politik” geäussert.

Salzborn scheint aber die gesamte Forschung zum Thema Antisemitismus und Gnosis unbekannt zu sein; jedenfalls glaube ich nicht, dass er sie nur deshalb nirgends erwähnt, weil er nichts von ihr hält. Das wäre, erstens, kein Grund, und zweitens schon deshalb nicht plausibel, weil er selbst von antisemitischen “Verschwörungsphantasien” einer vermeintlich “regredierten Welt” (S. 201) schreibt und damit eigentlich auf der richtigen Spur ist. Diese Leerstelle in seiner Publizistik ist jedenfalls recht irritierend.

So, damit ist dieser Beitrag viel länger geworden als geplant, wo ich hier doch nur einige Fundstücke und Gedanken zum Besten geben wollte! Vielleicht wird er ja dennoch goutiert.

Mitteilungen aus dem Denklabor (1)

Dank Corona sitzen also viele von uns zuhause und manch einer fragt sich, wie er es aushalten soll. Das geht mir genauso, weil das Minimum an sozialen Kontakten, mit dem ich derzeit auskommen muss, auf das Gemüt drückt, auch wenn ich wohl soviele private Mitteilungen wie noch nie über WhatsApp, FB und per Email erhalte.

Immerhin, Langeweile habe ich keine und Arbeit ist genug da. Neben meiner Leidenschaft für das Wing Tsun bin ich auf meine Publikationsprojekte konzentriert, aber auch auf die Lektüre zahlreicher Bücher, für die ich noch keine Zeit gefunden habe. Letzteres kommt auch daher, dass ich vor einiger Zeit eine grössere Bücherschenkung erhalten habe und während normalerweise ein Buch erst dann ins Regel wandert, wenn ich mich eingehend mit ihm beschäftigt habe, war das in diesem Fall nicht möglich.

Dazu waren es einfach zu viele. Extra Regale mussten angeschafft und die vielen Titel vorläufig eingeräumt werden, bevor ich sie mir vornehmen kann. Dabei handelt es sich fast ausschliesslich um akademische Bücher, darunter viele auf Arabisch.

Einige Titel …
… aus der Schenkung.

Ich werde daher auf diesem Blog in loser Folge über meine Publikationsprojekte berichten sowie Fundstücke aus meiner Lektüre präsentieren, gelegentlich garniert mit ein paar Gedanken meinerseits. Vielleicht goutiert meine Leserschaft auch ein paar Ausführungen zu Wing Tsun wie auch zu einigen anderen Themen – und wie wieder einmal alles mit allem zusammenhängt.

Also, bleiben Sie dran!

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