Geht es um den interreligiösen Dialog, dann wird es gern idealistisch. Überhaupt stelle ich immer wieder fest, wie ihre Verfechter häufig so tun, als gäbe es, sobald es um den Islam geht, nur den Koran und eine Vielzahl von Auslegungen – ganz so, als habe es nie eine tausendjährige Theologie gegeben, wobei wir hier das Wort Theologie in Ermangelung eines passenderen Begriffs verwenden, haben sich doch die muslimischen Rechtsgelehrten immer als Juristen begriffen.

Wenn von islamischer Theologie die Rede ist, dann ist meist die sunnitische gemeint, wie auch die überwältigende Mehrzahl der Muslime, 85 bis neunzig Prozent, dem sunnitischen Islam angehören. Eines der Kennzeichen des sunnitischen Islam ist, dass er den ra’y aus dem Instrumentarium der Urteilsfindung ausgeschlossen hat. Bevor wir dazu kommen, was mit “ra’y” gemeint ist, wollen wir etwas zurück in die Geschichte gehen.

Nach dem Tode des Propheten hatten die Muslime nur den Koran und noch keine kanonisierte Lesart. Da der Koran ein ziemlich dünnes Buch ist, liefert er auf eine Vielzahl von Fragen keine Antworten. Wer eine arabische oder zweisprachige Ausgabe in seinem Regal neben der Bibel stehen hat, täuscht sich leicht: Der Koran scheint nur etwa ein Drittel weniger Umfang zu haben als die Bibel, in Wirklichkeit aber ist der Unterschied viel grösser.

Während Ausgaben der Bibel zumeist auf Dünndruckpapier soviel Text pro Seite wie möglich unterzubringen bestrebt sind, enthalten Koranausgaben im arabischen Original meist nur wenige Sätze pro Seite (vgl. Baker 2007, passim), was ihre Seitenzahl aufbläht. Zählt man hingegen die Wörter, kommt man, je nach Methode, auf weit über 700.000 bei der Bibel, auf über 70.000 beim Koran. Der Koran hat also ungefähr ein Zehntel des Umfanges der Bibel. Dass genauere Angaben schwierig sind, weil nicht immer klar ist, was als einzelnes Wort gezählt werden soll, muss uns hier nicht weiter beschäftigen.

Die muslimischen Gelehrten der frühen Zeit jedenfalls hatten immer, wenn sie auf Grundlage des koranischen Textes keine Antwort auf eine juristische Frage zu geben wussten, ihre individuelle Vernunft, man könnte auch sagen: ihren gesunden Menschenverstand, ins Spiel gebracht, also ihre Meinung geäussert, auf Arabisch: “ra’y”. Da unterschiedliche Gelehrte unterschiedliche Meinungen hatten, bildeten sich lokal unterschiedliche Schulen aus.

Das klingt aus heutiger Sicht sehr fortschrittlich weil pluralistisch, aber diese Schulen lagen zum Teil im Clinch miteinander und es würde hier zu weit führen, die weltpolitischen Hintergründe und theologischen Verschlingungen im einzelnen anzuführen, die daraus folgten. Relevant in diesem Zusammenhang ist nur, dass innerhalb der Gelehrtenschaft schon bald eine Strömung dominieren sollte, deren Programm die Vereinheitlichung der Rechtsfindung war. Einer der Vordenker dieser Strömung war ein Mann namens aš-Šāfiʿī (767-819), der massgeblich dazu beigetragen hat, den ra’y aus der Methodik der Rechtsfindung auszuschliessen.

Wie Nasr Hamid Abu Zaid (1992, passim) schreibt, warf das nun ein ganz erhebliches Problem auf: Wenn muslimische Juristen nicht mehr von ihrer persönlichen Ratio Gebrauch machen sollten, würden sie auf viele Fragen keine Antworten mehr geben können. Abhilfe schaffen sollte nach aš-Šāfiʿīs Vorstellung daher die Prophetentradition, also die zu seiner Zeit angefertigten Sammlungen von Überlieferungen über Worte und Taten des Propheten.

Der arabische Begriff für Prophetentradition lautet “sunna”, wörtlich: “Tradition”; die einzelnen Überlieferungen nennen sich Hadithe und zusammen sind sie um ein Vielfacher umfangreicher als der Koran. Fanden die Rechtsgelehrten also im Koran keine Antwort auf eine Frage, konnten sie fortan die Hadithe zu Rate ziehen. Aš-Šāfiʿī selber ist Begründer einer der vier kanonischen Rechtsschulen im sunnitischen Islam, aber auch die anderen drei haben seine Programmatik übernommen.

Halten wir an dieser Stelle fest, welche tiefgreifenden Änderungen die muslimische, d.h. sunnitische Theologie seit aš-Šāfiʿī durchgemacht hat: Erstens wird das Individuum aus dem Rechtsfindungsprozess ausgeschlossen; diese soll nach streng wissenschaftlichen Prinzipien ablaufen. Zweitens soll eine Vielfalt an Auslegungen nach Möglichkeit reduziert werden.

Warum galt eine Vielfalt der Auslegungen als Problem? Dafür mag es mehr als einen Grund geben, aber zu dieser Ansicht beigetragen haben dürfte der Umstand, dass in Koran und Sunna Vielfalt allgemein nicht eben positiv konnotiert ist. So gibt es die Vorstellung, dass der Islam in 72 oder 73 Sekten zerfallen werde, von denen nur eine gerettet werde. (Schimmel 1995, S. 262) Der Islamwissenschaftler Tilman Nagel (2014, S. 349) urteilt: „Die Pluralität von Ansichten und Anschauungen ist laut Koran eine verhängnisvolle Folge der teilweisen oder vollständigen Abwendung von der Anleitung durch Allah, vom Wissen schlechthin.“

Was ist nun mit dem vielzitierten Hadith “Die Meinungsverschiedenheit in der Gemeinde ist eine Gnade” (iḫtilāfu l-ummati raḥmatun)? Der Korankenner Rudi Paret (1979, S. 524-5) hat schon vor langer Zeit darauf hingewiesen, dass dieser Ausspruch des Propheten im völligen Widerspruch zum Koran steht, in dem Meinungsverschiedenheiten immer im Kontext von Spaltung, Abweichung, Verfälschung genannt werden. Auch in den Hadithen, wie Paret schreibt, hat “iḫtilāf”, Differenz, eine negative Bedeutung. Paret hat daher angenommen, dass in diesem speziellen Fall das Wort für “Gnade” (raḥma) verstanden werden müsse i.S.v. Nachsicht. Als Loblied auf die Meinungsvielfalt ist dieser Hadith bestimmt nicht zu verstehen.

Das ist der Hintergrund an Wissen, den man haben muss, um die Aussagen eines Klaus von Stosch einordnen zu können. Der Paderborner katholische Theologe, der sich als Verfechter eines interreligiösen Dialogs und einer komparativen Theologie einen Namen gemacht hat, behauptet (von Stosch 2016, S. 105), in der Rechtsfindung aller Schulrichtungen des sunnitischen Islam spiele das persönliche Urteil des Richters (raʾy) und damit “faktisch die Rechtsfortbildung im Sinne des römischen Rechts eine grosse Rolle.‟

Das ist doppelter Unsinn. Der ra’y ist ja, wie wir gesehen haben, aus der Rechtsfindung ausgeschlossen worden und das dürfte auch der Grund gewesen sein, warum, anders als im christlichen Kontext, das Römische Recht nie formell in den Islam inkorporiert wurde (Weiss 1991: 245). Irgendeine analoge Entwicklung, wie von Stosch sie hier vorschwebt, hat wohl kaum stattgefunden, wie es auch keinen muslimischen Justinian gegeben hat, der kraft seines Amtes Rechtstexte kompiliert, verbessert und überarbeitet hätte (Nagel 2012, S. 17, Bretone 1992, S. 253). Im Gegenteil sollten die Hadithe ohne Wie und ohne Erläuterung für wahr gehalten werden, wie es in einem Abriss der sunnitischen Doktrin aus dem 10. Jahrhundert heisst (Nagel 1994, S. 226).

Wenn von Stosch (2016: 106) zudem behauptet, dass einem Hadith zufolge die Meinungsverschiedenheit innerhalb der Gemeinde als „ein Zeichen göttlicher Barmherzigkeit‟ gelte, dann ist das, wie wir ebenfalls gesehen haben, eine mehr als fragwürdige Annahme, die offensichtlich interessengeleitet ist. Unsinnig ist auch die These (ebd., S. 106), wonach sich erst in der Moderne mit der Salafiyya eine fundamentalistische Strömung entwickelt habe, “die diese Meinungsvielfalt nicht mehr aushält.‟ Sie ist schon deshalb falsch, weil, wie oben gezeigt, die Meinungsvielfalt zu minimieren schon das Ziel der frühen sunnitischen Gelehrten war. Davon hat von Stosch aber keine Ahnung, in dessen Buch der Name aš-Šāfiʿī daher auch nicht ein einziges Mal vorkommt.

Geistiger Pate dieser These von der Unterdrückung der Meinungsvielfalt im Islam erst durch die Salafiyya der Neuzeit ist natürlich der Münsteraner Arabist Thomas Bauer, auf den von Stosch sich auch explizit beruft (ebd., S. 16, 114) und über dessen Machwerk “Die Kultur der Ambiguität” ich mich mehrfach eingehend geäussert habe. Von Bauer übernommen hat er auch die Behauptung (ebd., S. 150), dass es im ganzen Mittelalter keine Steinigung im Islam gegeben habe. Dass dies möglich, aber unwahrscheinlich ist, habe ich ebenfalls an anderer Stelle ausführlich dargelegt.

Wie von Stosch (ebd., S. 110-1) sonst noch tickt, beweist sein Appell an die Leserschaft: „Die Ziele der Scharia … könnten auch unsere westlichen Gesellschaften zu mehr Gerechtigkeit ermutigen. Wenn man … sich vergegenwärtigt, wie weit wir in Deutschland noch von einem ganzheitlichen Wachstumsbegriff entfernt sind, … dann wird sofort deutlich, wie gut es uns auch im Westen täte, wenn die Grundsätze der Scharia besser umgesetzt würden.‟

Der gute alte Kulturpessimismus mit seiner empiriefreien Larmoyanz über die Marktwirtschaft gehört zum ideologischen Grundinventar geisteswissenschaftlicher Fakultäten und ist unmittelbar anschlussfähig an den Islamismus. Da passt es gut ins Bild, dass von Stosch sich vor zwei Jahren nicht zu schade war, für sein Buch einen Preis des islamistischen Regimes in Teheran anzunehmen. Dort pflegt man ein ganzheitliches Ökonomieverständnis unter Leitung eines religiösen Führers – mit allem, was dazugehört.

So folgt dem wissenschaftlichen Bankrott der moralische auf dem Fusse. Wenn das interreligiöser Dialog ist, dann ist er vor allem eines: Für die Tonne.


Literatur

Naṣr Ḥāmid Abū Zaid. 1992. الامام الشافعي وتأسيس الايديولوجية الوسطية. Kairo: Sīnā.

Colin F. Baker. 2007. Qur’an Manuscripts: Calligraphy, Illumination, Design. London: The British Library.

Mario Bretone. 1992. Geschichte des römischen Rechts: Von den Anfängen bis Justinian. München: C.H. Beck.

Tilman Nagel. 2012. Zu den Grundlagen des islamischen Rechts. Baden-Baden: Nomos.

–– 2014. Angst vor Allah? Auseinandersetzungen mit dem Islam. Berlin: Duncker & Humblot.

Rudi Paret. 1979. Innerislamischer Pluralismus. In: Die islamische Welt zwischen Mittelalter und Neuzeit: Festschrift für Hans Robert Roemer zum 65. Geburtstag, hrsg. von Ulrich Haarmann und Peter Bachmann. Beirut und Wiesbaden: Franz Steiner, S. 523-9

Annemarie Schimmel. 1995. Die Zeichen Gottes: Die religiöse Welt des Islams. München: C.H. Beck.

Klaus von Stosch. 2016. Herausforderung Islam: Christliche Annäherungen. Paderborn: Ferdinand Schöningh.

Bernard Weiss. 1991. Law in Islam and in the West: Some Comparative Observations. In: Islamic Studies presented to Charles J. Adams, hrsg. von Wael B. Hallaq and Donald P. Little. Leiden, New York, Kopenhagen und Köln: Brill.


Nachtrag 11. April 2020

Das angegebene Todesjahr von aš-Šāfiʿī war falsch und wurde von mir korrigiert (Angaben nach Kaḥḥāla).

Nachtrag 13. April 2020

Auf Twitter hat sich eine kleine Diskussion entspannt, wofür man immer dankbar ist.