Writing East and West

Tag: Islam Page 1 of 4

Iranian Secularism

I have been saying this for many years: secularism, or rather the idea of a predominantly secularist state, i.e. a state separate from organized religion, is not simply a Western idea that has no traction in societies in the rest of the world. A notable article in Aeon argues on behalf of Iranian secularism and why proponents of postcolonialist theory fundamentally misunderstand it:

Istanbul like you’ve never seen it before

Watch this. Syrian-German filmmaker Waref Abu Quba Rund has assembled around 2,900 photographs of Istanbul into a kaleidoscope of sensuality, “a mesmerizing journey into the past, paying homage to Islamic, Ottoman, Greek, and Byzantine art forms.”

Islamwissenschaften und Islamismus – Artikel in der NZZ

Die aktuelle Diskussion über die Linke und den Islamismus habe ich in einem Beitrag für die NZZ um einen, wie ich meine, wichtigen Aspekt ergänzt, nämlich um das Verhältnis der Islamwissenschaften zum Islamismus.

Das Thema werde ich bei Gelegenheit vertiefen, denn meine Beobachtungen lassen sich auf auf angrenzende Fächer beziehen.

Mein Artikel “In der Verstehensfalle – ein grosser Teil der Islamwissenschaft kuscht vor dem Islamismus” ist hier frei zugänglich.

Die “Wiener Zeitung” über Islam und Politik

Die “Wiener Zeitung” hat einen längeren Artikel zum Thema “politischer Islam” gebracht und ihn mit einigen Statements von mir garniert.

Den Artikel unter dem Titel “Wie viel Politik im Islam steckt” gibt es auch online hier.

Beitrag auf “Cicero Online”

Manch einer unterschätzt, wie gross die Kräfte der Beharrung in den muslimischen Gesellschaften doch sind. Für “Cicero Online” habe ich das Problem einmal knapp umrissen. Unter dem Titel “Die Reislamisierung von unten” finden Sie meinen Beitrag barrierefrei unter diesem Link.

Auszug: “Seit dem Untergang des rationalistischen Islam haben wir es in den muslimischen Ländern mit einer Gemengelage von Religion und Politik zu tun. Dass die Scharia von einem sehr weltlichen Charakter ist und Vorschriften zum Familien-, Vertrags- und Verwaltungsrecht umfasst, lässt die Sphären der Religion und der Politik nur noch weiter verschwimmen.”


Nachtrag 18. August 2020

Vorgestern, am Sonntag, hat Mouhanad Khorchide mit einer Replik reagiert, die unter dem Titel “Top-down oder Bottom-up?” ebenfalls auf “Cicero Online” erschienen ist.

Nicht, dass ich inhaltlich einverstanden wäre, aber ich schätze es doch überaus, dass Mouhanad Khorchide sich der Debatte stellt und nicht, wie so viele, die ich an der Uni kennengelernt habe, andere Meinungen einfach ignoriert.

Mitteilungen aus dem Denklabor (3) – Was ein katholischer Theologe so über den Islam denkt

Geht es um den interreligiösen Dialog, dann wird es gern idealistisch. Überhaupt stelle ich immer wieder fest, wie ihre Verfechter häufig so tun, als gäbe es, sobald es um den Islam geht, nur den Koran und eine Vielzahl von Auslegungen – ganz so, als habe es nie eine tausendjährige Theologie gegeben, wobei wir hier das Wort Theologie in Ermangelung eines passenderen Begriffs verwenden, haben sich doch die muslimischen Rechtsgelehrten immer als Juristen begriffen.

Wenn von islamischer Theologie die Rede ist, dann ist meist die sunnitische gemeint, wie auch die überwältigende Mehrzahl der Muslime, 85 bis neunzig Prozent, dem sunnitischen Islam angehören. Eines der Kennzeichen des sunnitischen Islam ist, dass er den ra’y aus dem Instrumentarium der Urteilsfindung ausgeschlossen hat. Bevor wir dazu kommen, was mit “ra’y” gemeint ist, wollen wir etwas zurück in die Geschichte gehen.

Nach dem Tode des Propheten hatten die Muslime nur den Koran und noch keine kanonisierte Lesart. Da der Koran ein ziemlich dünnes Buch ist, liefert er auf eine Vielzahl von Fragen keine Antworten. Wer eine arabische oder zweisprachige Ausgabe in seinem Regal neben der Bibel stehen hat, täuscht sich leicht: Der Koran scheint nur etwa ein Drittel weniger Umfang zu haben als die Bibel, in Wirklichkeit aber ist der Unterschied viel grösser.

Während Ausgaben der Bibel zumeist auf Dünndruckpapier soviel Text pro Seite wie möglich unterzubringen bestrebt sind, enthalten Koranausgaben im arabischen Original meist nur wenige Sätze pro Seite (vgl. Baker 2007, passim), was ihre Seitenzahl aufbläht. Zählt man hingegen die Wörter, kommt man, je nach Methode, auf weit über 700.000 bei der Bibel, auf über 70.000 beim Koran. Der Koran hat also ungefähr ein Zehntel des Umfanges der Bibel. Dass genauere Angaben schwierig sind, weil nicht immer klar ist, was als einzelnes Wort gezählt werden soll, muss uns hier nicht weiter beschäftigen.

Die muslimischen Gelehrten der frühen Zeit jedenfalls hatten immer, wenn sie auf Grundlage des koranischen Textes keine Antwort auf eine juristische Frage zu geben wussten, ihre individuelle Vernunft, man könnte auch sagen: ihren gesunden Menschenverstand, ins Spiel gebracht, also ihre Meinung geäussert, auf Arabisch: “ra’y”. Da unterschiedliche Gelehrte unterschiedliche Meinungen hatten, bildeten sich lokal unterschiedliche Schulen aus.

Das klingt aus heutiger Sicht sehr fortschrittlich weil pluralistisch, aber diese Schulen lagen zum Teil im Clinch miteinander und es würde hier zu weit führen, die weltpolitischen Hintergründe und theologischen Verschlingungen im einzelnen anzuführen, die daraus folgten. Relevant in diesem Zusammenhang ist nur, dass innerhalb der Gelehrtenschaft schon bald eine Strömung dominieren sollte, deren Programm die Vereinheitlichung der Rechtsfindung war. Einer der Vordenker dieser Strömung war ein Mann namens aš-Šāfiʿī (767-819), der massgeblich dazu beigetragen hat, den ra’y aus der Methodik der Rechtsfindung auszuschliessen.

Wie Nasr Hamid Abu Zaid (1992, passim) schreibt, warf das nun ein ganz erhebliches Problem auf: Wenn muslimische Juristen nicht mehr von ihrer persönlichen Ratio Gebrauch machen sollten, würden sie auf viele Fragen keine Antworten mehr geben können. Abhilfe schaffen sollte nach aš-Šāfiʿīs Vorstellung daher die Prophetentradition, also die zu seiner Zeit angefertigten Sammlungen von Überlieferungen über Worte und Taten des Propheten.

Der arabische Begriff für Prophetentradition lautet “sunna”, wörtlich: “Tradition”; die einzelnen Überlieferungen nennen sich Hadithe und zusammen sind sie um ein Vielfacher umfangreicher als der Koran. Fanden die Rechtsgelehrten also im Koran keine Antwort auf eine Frage, konnten sie fortan die Hadithe zu Rate ziehen. Aš-Šāfiʿī selber ist Begründer einer der vier kanonischen Rechtsschulen im sunnitischen Islam, aber auch die anderen drei haben seine Programmatik übernommen.

Halten wir an dieser Stelle fest, welche tiefgreifenden Änderungen die muslimische, d.h. sunnitische Theologie seit aš-Šāfiʿī durchgemacht hat: Erstens wird das Individuum aus dem Rechtsfindungsprozess ausgeschlossen; diese soll nach streng wissenschaftlichen Prinzipien ablaufen. Zweitens soll eine Vielfalt an Auslegungen nach Möglichkeit reduziert werden.

Warum galt eine Vielfalt der Auslegungen als Problem? Dafür mag es mehr als einen Grund geben, aber zu dieser Ansicht beigetragen haben dürfte der Umstand, dass in Koran und Sunna Vielfalt allgemein nicht eben positiv konnotiert ist. So gibt es die Vorstellung, dass der Islam in 72 oder 73 Sekten zerfallen werde, von denen nur eine gerettet werde. (Schimmel 1995, S. 262) Der Islamwissenschaftler Tilman Nagel (2014, S. 349) urteilt: „Die Pluralität von Ansichten und Anschauungen ist laut Koran eine verhängnisvolle Folge der teilweisen oder vollständigen Abwendung von der Anleitung durch Allah, vom Wissen schlechthin.“

Was ist nun mit dem vielzitierten Hadith “Die Meinungsverschiedenheit in der Gemeinde ist eine Gnade” (iḫtilāfu l-ummati raḥmatun)? Der Korankenner Rudi Paret (1979, S. 524-5) hat schon vor langer Zeit darauf hingewiesen, dass dieser Ausspruch des Propheten im völligen Widerspruch zum Koran steht, in dem Meinungsverschiedenheiten immer im Kontext von Spaltung, Abweichung, Verfälschung genannt werden. Auch in den Hadithen, wie Paret schreibt, hat “iḫtilāf”, Differenz, eine negative Bedeutung. Paret hat daher angenommen, dass in diesem speziellen Fall das Wort für “Gnade” (raḥma) verstanden werden müsse i.S.v. Nachsicht. Als Loblied auf die Meinungsvielfalt ist dieser Hadith bestimmt nicht zu verstehen.

Das ist der Hintergrund an Wissen, den man haben muss, um die Aussagen eines Klaus von Stosch einordnen zu können. Der Paderborner katholische Theologe, der sich als Verfechter eines interreligiösen Dialogs und einer komparativen Theologie einen Namen gemacht hat, behauptet (von Stosch 2016, S. 105), in der Rechtsfindung aller Schulrichtungen des sunnitischen Islam spiele das persönliche Urteil des Richters (raʾy) und damit “faktisch die Rechtsfortbildung im Sinne des römischen Rechts eine grosse Rolle.‟

Das ist doppelter Unsinn. Der ra’y ist ja, wie wir gesehen haben, aus der Rechtsfindung ausgeschlossen worden und das dürfte auch der Grund gewesen sein, warum, anders als im christlichen Kontext, das Römische Recht nie formell in den Islam inkorporiert wurde (Weiss 1991: 245). Irgendeine analoge Entwicklung, wie von Stosch sie hier vorschwebt, hat wohl kaum stattgefunden, wie es auch keinen muslimischen Justinian gegeben hat, der kraft seines Amtes Rechtstexte kompiliert, verbessert und überarbeitet hätte (Nagel 2012, S. 17, Bretone 1992, S. 253). Im Gegenteil sollten die Hadithe ohne Wie und ohne Erläuterung für wahr gehalten werden, wie es in einem Abriss der sunnitischen Doktrin aus dem 10. Jahrhundert heisst (Nagel 1994, S. 226).

Wenn von Stosch (2016: 106) zudem behauptet, dass einem Hadith zufolge die Meinungsverschiedenheit innerhalb der Gemeinde als „ein Zeichen göttlicher Barmherzigkeit‟ gelte, dann ist das, wie wir ebenfalls gesehen haben, eine mehr als fragwürdige Annahme, die offensichtlich interessengeleitet ist. Unsinnig ist auch die These (ebd., S. 106), wonach sich erst in der Moderne mit der Salafiyya eine fundamentalistische Strömung entwickelt habe, “die diese Meinungsvielfalt nicht mehr aushält.‟ Sie ist schon deshalb falsch, weil, wie oben gezeigt, die Meinungsvielfalt zu minimieren schon das Ziel der frühen sunnitischen Gelehrten war. Davon hat von Stosch aber keine Ahnung, in dessen Buch der Name aš-Šāfiʿī daher auch nicht ein einziges Mal vorkommt.

Geistiger Pate dieser These von der Unterdrückung der Meinungsvielfalt im Islam erst durch die Salafiyya der Neuzeit ist natürlich der Münsteraner Arabist Thomas Bauer, auf den von Stosch sich auch explizit beruft (ebd., S. 16, 114) und über dessen Machwerk “Die Kultur der Ambiguität” ich mich mehrfach eingehend geäussert habe. Von Bauer übernommen hat er auch die Behauptung (ebd., S. 150), dass es im ganzen Mittelalter keine Steinigung im Islam gegeben habe. Dass dies möglich, aber unwahrscheinlich ist, habe ich ebenfalls an anderer Stelle ausführlich dargelegt.

Wie von Stosch (ebd., S. 110-1) sonst noch tickt, beweist sein Appell an die Leserschaft: „Die Ziele der Scharia … könnten auch unsere westlichen Gesellschaften zu mehr Gerechtigkeit ermutigen. Wenn man … sich vergegenwärtigt, wie weit wir in Deutschland noch von einem ganzheitlichen Wachstumsbegriff entfernt sind, … dann wird sofort deutlich, wie gut es uns auch im Westen täte, wenn die Grundsätze der Scharia besser umgesetzt würden.‟

Der gute alte Kulturpessimismus mit seiner empiriefreien Larmoyanz über die Marktwirtschaft gehört zum ideologischen Grundinventar geisteswissenschaftlicher Fakultäten und ist unmittelbar anschlussfähig an den Islamismus. Da passt es gut ins Bild, dass von Stosch sich vor zwei Jahren nicht zu schade war, für sein Buch einen Preis des islamistischen Regimes in Teheran anzunehmen. Dort pflegt man ein ganzheitliches Ökonomieverständnis unter Leitung eines religiösen Führers – mit allem, was dazugehört.

So folgt dem wissenschaftlichen Bankrott der moralische auf dem Fusse. Wenn das interreligiöser Dialog ist, dann ist er vor allem eines: Für die Tonne.


Literatur

Naṣr Ḥāmid Abū Zaid. 1992. الامام الشافعي وتأسيس الايديولوجية الوسطية. Kairo: Sīnā.

Colin F. Baker. 2007. Qur’an Manuscripts: Calligraphy, Illumination, Design. London: The British Library.

Mario Bretone. 1992. Geschichte des römischen Rechts: Von den Anfängen bis Justinian. München: C.H. Beck.

Tilman Nagel. 2012. Zu den Grundlagen des islamischen Rechts. Baden-Baden: Nomos.

–– 2014. Angst vor Allah? Auseinandersetzungen mit dem Islam. Berlin: Duncker & Humblot.

Rudi Paret. 1979. Innerislamischer Pluralismus. In: Die islamische Welt zwischen Mittelalter und Neuzeit: Festschrift für Hans Robert Roemer zum 65. Geburtstag, hrsg. von Ulrich Haarmann und Peter Bachmann. Beirut und Wiesbaden: Franz Steiner, S. 523-9

Annemarie Schimmel. 1995. Die Zeichen Gottes: Die religiöse Welt des Islams. München: C.H. Beck.

Klaus von Stosch. 2016. Herausforderung Islam: Christliche Annäherungen. Paderborn: Ferdinand Schöningh.

Bernard Weiss. 1991. Law in Islam and in the West: Some Comparative Observations. In: Islamic Studies presented to Charles J. Adams, hrsg. von Wael B. Hallaq and Donald P. Little. Leiden, New York, Kopenhagen und Köln: Brill.


Nachtrag 11. April 2020

Das angegebene Todesjahr von aš-Šāfiʿī war falsch und wurde von mir korrigiert (Angaben nach Kaḥḥāla).

Nachtrag 13. April 2020

Auf Twitter hat sich eine kleine Diskussion entspannt, wofür man immer dankbar ist.

Woher der muslimische Antisemitismus kommt

Na, das kann ja was werden, dachte ich. Diskursanalyse nach Siegried Jäger? Das ist eine von diesen neomarxistischen Theorien, die an den Universitäten schon genug Unheil angerichtet haben. Jäger glaubt, dass wir, weil die der Wirklichkeit keine Wahrheiten entnehmen können, sondern sie immer nur auf der Grundlage unseres eigenen Wissens deuten, Wissenschaft „immer schon politisch‟ sei. Kein guter Start.

Dennoch ist die Abschlussdokumentation des Projekts „Extreme Out‟ eine respektable Leistung geworden. Erkennt man meist schon an der Literaturliste, wo die Verfasser politisch stehen, so ist dies hier nicht der Fall. Vielmehr greifen die Autoren ganz unterschiedliche Standpunkte auf und vermeiden die Nähe zu einem bestimmten politischen Lager.

Warum in den Medien der Mythos umhergeht, die Autoren würden den muslimischen Antisemitismus als direkte Folge der Diskriminierungserfahrungen von Muslimen deuten, bleibt mir ein Rätsel. Selbst die renommierte „Jüdische Allgemeine‟ verbreitet diesen Unsinn. Tatsächlich heisst es in der Dokumentation:

“Viele Jugendliche rechtfertigen ihre antisemitischen und menschenfeindlichen Einstellungen dadurch, das sie durch die zunehmende Islamfeindlichkeit selbst abgewertet und diskriminiert werden.”

“Extrme Out”, S. 151

Hier wird also eine Einstellung unter muslimischen Jugendlichen wiedergegeben und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Autoren der Dokumentation sie sich zu eigen machen. Vielmehr schreiben sie von Sündenbockfunktion und Opferneid, die hier zum Ausdruck kommen. Das ist plausibel und meilenweit davon entfernt, den Antisemitismus unter Muslimen als alleinige Folge von Ausgrenzungserfahrungen zu deuten.

Das heisst nicht, dass man an der Dokumentation nicht einiges kritisieren könnte. Die Autoren gehen zwar der Frage nach, welchen Judenbild Koran und Sunna haben, verpassen es jedoch, auch die Prophetenvita (Sira) unter die Lupe zu nehmen. Massgeblich zu nennen ist hier die Forschung von Maghen (2006), der gezeigt hat, dass das Judentum dort wie auch in anderen klassischen muslimischen Texten als Anti-Religion par excellence dargestellt wird.

Maghen, das sei an dieser Stelle betont, zeichnet dabei keineswegs ein düsteres Bild vom Islam, sondern macht deutlich, dass das Judentum vor allem als Kontrastfolie für einen Islam herangezogen wurde, der den Anspruch hatte, in Hinblick auf die religiösen Vorschriften des Gläubigen weniger streng zu sein. Das Judentum der Sira und anderer frühen Texte ist also nicht mit dem realen Judentum zu verwechseln. Irgendeine Art von eliminatorischem Judenhass findet sich dort nicht.

Dieser ist ein später Import aus Europa, da haben die Autoren der Dokumentation recht. Allerdings ist die Benutzung des Judentums als Kontrastfolie für den Islam auch nicht unbedingt geeignet, ein unvoreingenommenes Bild von den Juden der damaligen Zeit zu entwickeln. Auch wenn es in der islamischen Welt keine solche Diskrimierungen und Übergriffe gegen Juden gegeben hat wie in Europa, so haben die Autoren der Dokumentation fraglos recht, wenn sie (wenngleich lediglich auf Koran und Sunna gemünzt) konstatieren, dass „sich für antisemitische Diskursstränge Anknüpfungsmöglichkeiten‟ bieten.

Der Aufsatz von Reinkowski (2011), in dem der Autor den Ursprüngen moderner antisemitischer Verschwörungstheorien iim Osmanischen Reich nachgeht, wie auch der Frage, warum derlei noch heute so populär ist, blieb allerdings in der Dokumentation unberücksichtigt. Einiges davon kann man auch im Kapitel “Die grosse Verschwörung” (Kreutz 2013) nachlesen: Vor allem im griechischsprachen Teil des Osmanischen Reiches waren Juden Schikanen ausgesetzt gewesen und mussten Übergriffe durch ihre christlichen Nachbarn fürchten.

An anderer Stelle zitieren die Autoren Bernard Lewis, wonach die islamischen Geschichte immer wieder “Perioden strikter, militanter Orthodoxie” erlebt habe. Lewis steht mit dieser These nicht alleine da, aber es gibt jemanden, der sie noch besser begründet hat, nämlich Ira M. Lapidus (1992), einer der besten Kenner der muslimischen Sozialgeschichte. Dass der Koran vielfach die Neigung aufweist, „die Welt eher hinzunehmen und zu modifizieren als sie radikal herauszufordern und zu verwandeln“ (Lapidus) steht im engen Zusammenhang mit dem Auftreten solcher, von Lewis beschriebenen Perioden. Lapidus selbst hat die islamistischen Bewegungen der Gegenwart als Teil eines grossen Kontinuums gesehen und nicht als etwas, das erst im frühen 20. Jahrhundert seinen Anfang genommen hat.

Das gilt auch für manche Aspekte des muslimischen Verhältnisses den Juden gegenüber. Das erste bekannte Edikt, das Juden verpflichtete, gelbe Kleidung zu tragen, wurde immerhin schon 849 verkündet (Goitein 1974, Schimmel 1995). Schon früh kam auch das Gerücht auf, die Schia sei die Gründung eines Juden namens ʿAbdallāh b. Sabaʾ. Wir finden diese Behauptung z.B. bei Ibn Taymiyya (14. Jhd.), für den die Schia überhaupt nur eine Mischung aus Judentum, Christentum und ġulūw (Übertreibung, vgl. Q 4:71, 5:77) ist – letzteres ein Begriff, der auch synonym für die Schia insgesamt benutzt wird (Friedman 2010). Die Juden als Spalter lässt sich als Motiv also schon lange vor irgendeinem europäischen Einfluss nachweisen.

Ironischerweise nehmen die Juden, ebenfalls negativ konnotiert, einen festen Bestandteil in der schiitischen Eschatologie ein. Nicht nur ist das Erscheinen des Mahdī, des „Rechtgeleiteten‟ und Wiederherstellers der Religion vor dem Jüngsten Gericht, an den Kampf um Jerusalem geknüpft. (Ourghi 2008) Auch der Daǧǧāl, der apokalyptische Gegenspieler des Mahdī, wird meist als einäugiger Jude von groteskem Aussehen beschrieben. (McCants 2015) Das erinnert schon sehr an modernen europäischen Antisemitismus.

Natürlich liesse sich noch weitere Literatur nennen und klar ist auch, dass soviel Fachliteratur zur islamischen Geschichte, zum Thema Islam und Minderheiten sowie Islam und Extremismus existiert, dass ein einzelner sie schon längst nicht mehr überschauen kann. Dennoch hätte hier etwas gründlicher recherchiert werden können. Ankreiden kann man auch, das Koranzitat vom nicht vorhandenen Zwang in der Religion aus dem Zusammenhang gerissen zu haben.

Letztlich aber man muss die Autoren dennoch dafür loben, dass sie sich um eine ideologiefreie Herangehensweise an ein politisch stark aufgeladenes Thema bemüht haben.


Literatur

Yaron Friedman. 2010. The Nuṣayrī-ʿAlawīs: An Introduction to the Religion, History and Identity of the Leading Minority in Syria. Leiden und Boston.

Shlomo D. Goitein. 1974. Jews and Arabs: Their Contacts Through the Ages. New York.

Michael Kreutz. 2013. Das Ende des levantinischen Zeitalters: Europa und die Östliche Mittelmeerwelt, 1821-1939. Hamburg.

Ira M. Lapidus. 1992. „Islamisches Sektierertum und das Rekonstruktions- und Umgestaltungspotential der islamischen Kultur“, in: Kulturen der Achsenzeit, Bd. II: Ihre institutionelle und kulturelle Dynamik, Teil 3: Buddhismus, Islam, Altägypten, westliche Kultur, hrsg. von Shmuel N. Eisenstadt. Frankfurt/Main, 161-88.

Ze’ev Maghen. 2006. After Hardship Cometh Ease: The Jews as Backdrop for Muslim Moderation. Berlin und New York.

William McCants. 2015. The ISIS Apocalypse: The History, Strategy, and Doomsday Vision of the Islamic State. New York.

Mariella Ourghi. 2008. Schiitischer Messianismus und Mahdī-Glaube in der Neuzeit. Würzburg.

Maurus Reinkowski. 2011. „Zionismus, Palästina und Osmanisches Reich: Eine Fallstudie zu Verschwörungstheorien im Nahen Osten‟, in: Judaism, Christianity and Islam in the Course of History: Exchange and Conflicts, hrsg. von Lothar Gall und Dietmar Willoweit. München, S. 93-104.

Annemarie Schimmel. 1995. Die Zeichen Gottes: Die religiöse Welt des Islams. München.

Ein Rückblick auf die Thesen von Günter Lüling

Dass ich mit mit den Theorien von Günter Lüling beschäftigt habe, ist schon Jahre her. Natürlich ist die Idee eines Ur-Koran faszinierend, von den Implikationen ganz zu schweigen. Lüling nahm an, dass Vertreter des Judenchristentums sich vor dem entstehenden hellenistisch-römischen Imperiums-Christentum auf die arabische Halbinsel gerettet haben, wo ihre Glaubensüberzeugungen gewissermassen arabisiert worden seien. (Über den Ur-Qur`ān, Erlangen 1974, S. 403-5; Die Wiederentdeckung des Propheten Muhammad, Erlangen 1981, S. 75).

Dabei berief sich Lüling auf die ältere Forschung von Julius Wellhausen, der behauptete, dass die ersten, die das Arabische als Schriftsprache gebrauchten, Christen waren, die in ihr eine eigene Poesie niederschrieben. Diese soll dann das Substrat gebildet haben, aus dem der Koran hervorging. Doch weil die Anhänger des Islam kein Interesse daran hatten, Zeugen für den christlichen Ursprung des Koran zu konservieren, soll besagte Poesie vollständig untergegangen sein. (Über den Ur-Qur`ān, S. 145)

Man wird das Gefühl nicht los, dass das alles ein bisschen wie Erich von Däniken klingt. Je stärker aber eine These ist, desto besser sollte sie begründet sein.

Lüling wollte den Koran keineswegs abwerten. Er selbst verstand seine Arbeit zwar als Kritik am Koran, aber “als eine gegenüber dem Islam denkbar positive.” Ablehnend stand er vielmehr der gängigen Vorstellung von einem christlichen Abendland gegenüber, das einen Alleinvertretungsanspruch auf die christliche Geschichte erhebt. Das bildete den Ausgangspunkt für seine vermeintliche Rekonstruktion des koranischen Textes. (Über den Ur-Qur`ān, S. 176)

Allerdings ist vieles spekulativ und man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass manches doch recht weit hergeholt ist. Im folgenden einige Beispiele (einfache Arabischkenntnisse vorausgesetzt):

1 – Lüling (Über den Ur-Qur`ān, S. 273) behauptet, dass in Koran 26:86, wo es heisst واغفر لابي [wa-ġfir li-abī] = „und vergib meinem Vater“, ursprünglich geheissen haben müsse واغفر لي ابي [wa-ġfir lī abī] = „und vergib mir, mein Vater“. Das hat mir ein Stirnrunzeln verursacht. Denn fehlt da nicht die Anrufungspartikel (يا)? Lüling spricht von einer altarabischen Koine, in der der Ur-Koran verfasst worden sei und wenn es diese Koine jemals gegen haben sollte, wäre natürlich denkbar, dass sie keine Anrufungspartikel kennt oder benötigt. Allerdings äussert sich Lüling dazu nicht, er setzt dies einfach voraus.

2 – Nach Lüling (Über den Ur-Qur`ān, S. 308) muss Koran 55:5-6, wo es heisst: الشمس والقمر يسبحان ganz anders, nämlich als والنجم السحر يسجدان gelesen werden. Dann kann سحر allerdings kein Substantiv sein, muss also adjektivisch saḥir gelesen werden. Lülings Argumentation ist merkwürdig: Er selbst übersetzt النجم السحر mit „Morgenstern“, für den er, wie er selbst sagt, bislang keinen Beleg in der christlich-arabischen Literatur finden konnte. Ist das solide Wissenschaft?

3 – Des weiteren behauptet Lüling, die Bezeichnung ummī für den Propheten werde falsch übersetzt. Eigentlich heisst der Begriff “Analphabet” und wird in der islamischen Tradition so verstanden, dass der Prophet, weil er des Lesens und Schreibens unkundig war, die Offenbarung auch nicht habe verfälschen können. Analphabet gewesen zu sein erhöht also seine Glaubwürdigkeit. Jetzt kommt Lüling (Über den Ur-Qur`ān, S. 346) und behauptet, ummī sei mit “national” zu übersetzen, insofern als der Prophet versucht habe, die Schrifttradition lokal zu beheimaten. Belege hierzu liefert Lüling keine.

Weitere Beispiele liessen sich nennen. Einige seiner Anhänger haben das Gerücht in die Welt gesetzt, dass Lüling deshalb die wissenschaftliche Karriere versagt geblieben war, weil seine Erkenntnisse die Orientalistik/ Islamwissenschaft aus den Angeln gehoben haben. Dass die Ablehnung seiner Thesen sachliche Gründe haben könnte, wollen nicht alle akzeptieren.

Tatsächlich würde hier gar nichts aus den Angeln gehoben, selbst wenn Lüling recht haben sollte. Denn für die Islamwissenschaft relevant bleibt der überlieferte, nicht irgendein rekonstruierter Koran, weil die ganze Theologie auf jenem aufbaut, nicht auf diesem. Hätte Lüling recht, würde das zwar ein ganz neues Licht auf die Anfänge des Islam werfen, aber die Theologie berührt es nicht, weil sie den Koran nur so kennt, wie er überliefert ist.

Es gibt einen lesenswerten Aufsatz zum achtzigsten Geburtstag von Günter Lüling und den islamwissenschaftlichen Betrieb an deutschen Universitäten, deren Verfasserin offenbar über Insiderkenntnisse verfügt. Über die methodischen Mängel seiner Thesen kann der Aufsatz aber nicht hinwegtäuschen.

Ein jüngst erschienener Sammelband widmet sich nun dem Lüling’schen Werk. Darin findet sich der (frei zugängliche) Aufsatz des Judaisten Holger Zellentin, der meine Vermutung bestätigt, dass Lülings Thesen einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten.

Zellentin führt gute Argumente ins Feld. Lülings Prämissen sowohl der Poesie als auch der christlichen Theologie sind auf Sand gebaut. Seine Thesen basieren auf einem Zirkelschluss: Sie bestätigen immer nur, was vorab schon angenommen wird. Solange ausserkoranische Befunde sie nicht stützen, stellen sie nicht mehr als eine Fussnote der Wissenschaftsgeschichte dar.

“Eine Gesellschaft, die nicht auf Fortschritt angewiesen war”

Man weis gar nicht, wo man anfangen soll. Da erzählt ein Islamwissenschaftler im “Deutschlandfunk” wirklich einen Haufen Mumpitz, den er als wissenschaftliche Erkenntnis verkauft. Dabei sind seine Thesen weder neu noch wissenschaftlich fundiert, sondern Teil des Mantras, den die Anhänger des Postkolonialismus seit jeher verbreiten. Frank Griffel heisst der Mann, dessen Geschichtsklitterung einem höheren Zweck dient, dem Kulturrelativismus:

„Und ich denke, das sollten wir als Nicht-Muslime in Betracht ziehen, dass Muslime letztlich ihren eigenen Weg in die Zukunft finden müssen und dass es nicht wir sein können, die ihnen sagen sollten: Soundso müsst Ihr sein, Ihr müsst so sein wie wir, Ihr müsst Fortschritt erwarten, Ihr müsst Fortschritt kreieren.‟

Was hier mit dem Gestus des Respekts für andere Kulturen daherkommt, ist reiner Zynismus. Denn eine Gesellschaft, die nicht auf Fortschritt geeicht ist, verwehrt es dem einzelnen, sein kreatives Potential zu entfalten.

In einer Gesellschaft ohne Fortschrittsdenken kann es überhaupt keine Wissenschaftskultur geben, denn Wissenschaft ist gar nicht möglich, wenn man nicht davon überzeugt ist, dass der menschliche Wissensbestand einer dauernden Überprüfung und Anpassung bedarf und es nützlich sein kann, ihn zu erweitern. Ohne Fortschrittsdenken gibt es keine Verbesserung des menschlichen Lebens in materieller Hinsicht. Medizin und Technik bleiben auf der Strecke oder führen ein Schattendasein als gelehrte Spielereien.

In einer Gesellschaft ohne Fortschrittsdenken ist der einzelne zurückgeworfen auf Arbeit und Familie. Produktion und Genuss von Kultur bleiben einer kleinen Elite vorbehalten, die lesen und schreiben und sich Kultur auch in finanzieller Hinsicht leisten kann. Damit sind die muslimischen Gesellschaften über grosse Phasen ihrer Geschichte zutreffend beschrieben.

Natürlich gab es zu allen Zeiten in der Islamischen Welt gelehrte Persönlichkeiten, die enorme Kulturleistungen hervorgebracht haben. Allerdings haben sie es nicht vermocht, ihre Gesellschaften tiefgreifend umzugestalten, wie dies im lateinischen Europa der Fall war. Während Averroes’ Schriften Karriere in der Scholastik machten, wurden sie in seiner muslimischen Heimat verbrannt. Auch wenn sie später rehabilitiert wurden, sollten sie nie die Wirkung entfalten, die sie nördlich des Mittelmeeres erlebten. Weitere Beispiele liessen sich nennen – siehe dazu meinen Aufsatz in dem in Kürze erscheinenden Sammelband Reformation im Islam.

Der Wissenschaftshistoriker und Graeco-Arabist Gotthard Strohmaier schrieb einmal vor Jahren, dass es fraglich sei, ob die europäische Rezeption etwa der Aristoteleskommentare des Averroes wirklich so massgeblich für die kulturelle Entwicklung waren, „oder ob nicht tiefere gesellschaftliche Ursachen verantwortlich” seien, “die ihm eine Aufnahme im Abendland bescherten, die ihm in seiner Heimat versagt blieb.” Gesellschaften ohne Fortschrittsdenken sind trostlose Gesellschaften, ähnlich den Monokulturen geisteswissenschaftlicher Fakultäten an westlichen Universitäten.

Man könnte nun mit Griffel argumentieren, dass dies kein Problem sei, solange die Menschen in den muslimischen Ländern mit ihrem Dasein und ihrer Kultur immer zufrieden waren und keinen Bedarf hatten, daran etwas zu ändern. Dem gilt es zu widersprechen: Selbst wenn dies der Fall war, kann es doch kein Vorbild für heute sein. Tatsächlich hat das Fortschrittsdenken in den muslimischen Ländern bis heute keine rechte Heimat gefunden. Wer von den herrschenden Verhältnissen nicht profitiert, wird versuchen, ihnen zu entkommen. Oft landen solche Leute im Westen.

Vielleicht möchte Frank Griffel mit einem von ihnen tauschen.

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