Na, das kann ja was werden, dachte ich. Diskursanalyse nach Siegried Jäger? Das ist eine von diesen neomarxistischen Theorien, die an den Universitäten schon genug Unheil angerichtet haben. Jäger glaubt, dass wir, weil die der Wirklichkeit keine Wahrheiten entnehmen können, sondern sie immer nur auf der Grundlage unseres eigenen Wissens deuten, Wissenschaft „immer schon politisch‟ sei. Kein guter Start.

Dennoch ist die Abschlussdokumentation des Projekts „Extreme Out‟ eine respektable Leistung geworden. Erkennt man meist schon an der Literaturliste, wo die Verfasser politisch stehen, so ist dies hier nicht der Fall. Vielmehr greifen die Autoren ganz unterschiedliche Standpunkte auf und vermeiden die Nähe zu einem bestimmten politischen Lager.

Warum in den Medien der Mythos umhergeht, die Autoren würden den muslimischen Antisemitismus als direkte Folge der Diskriminierungserfahrungen von Muslimen deuten, bleibt mir ein Rätsel. Selbst die renommierte „Jüdische Allgemeine‟ verbreitet diesen Unsinn. Tatsächlich heisst es in der Dokumentation:

“Viele Jugendliche rechtfertigen ihre antisemitischen und menschenfeindlichen Einstellungen dadurch, das sie durch die zunehmende Islamfeindlichkeit selbst abgewertet und diskriminiert werden.”

“Extrme Out”, S. 151

Hier wird also eine Einstellung unter muslimischen Jugendlichen wiedergegeben und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Autoren der Dokumentation sie sich zu eigen machen. Vielmehr schreiben sie von Sündenbockfunktion und Opferneid, die hier zum Ausdruck kommen. Das ist plausibel und meilenweit davon entfernt, den Antisemitismus unter Muslimen als alleinige Folge von Ausgrenzungserfahrungen zu deuten.

Das heisst nicht, dass man an der Dokumentation nicht einiges kritisieren könnte. Die Autoren gehen zwar der Frage nach, welchen Judenbild Koran und Sunna haben, verpassen es jedoch, auch die Prophetenvita (Sira) unter die Lupe zu nehmen. Massgeblich zu nennen ist hier die Forschung von Maghen (2006), der gezeigt hat, dass das Judentum dort wie auch in anderen klassischen muslimischen Texten als Anti-Religion par excellence dargestellt wird.

Maghen, das sei an dieser Stelle betont, zeichnet dabei keineswegs ein düsteres Bild vom Islam, sondern macht deutlich, dass das Judentum vor allem als Kontrastfolie für einen Islam herangezogen wurde, der den Anspruch hatte, in Hinblick auf die religiösen Vorschriften des Gläubigen weniger streng zu sein. Das Judentum der Sira und anderer frühen Texte ist also nicht mit dem realen Judentum zu verwechseln. Irgendeine Art von eliminatorischem Judenhass findet sich dort nicht.

Dieser ist ein später Import aus Europa, da haben die Autoren der Dokumentation recht. Allerdings ist die Benutzung des Judentums als Kontrastfolie für den Islam auch nicht unbedingt geeignet, ein unvoreingenommenes Bild von den Juden der damaligen Zeit zu entwickeln. Auch wenn es in der islamischen Welt keine solche Diskrimierungen und Übergriffe gegen Juden gegeben hat wie in Europa, so haben die Autoren der Dokumentation fraglos recht, wenn sie (wenngleich lediglich auf Koran und Sunna gemünzt) konstatieren, dass „sich für antisemitische Diskursstränge Anknüpfungsmöglichkeiten‟ bieten.

Der Aufsatz von Reinkowski (2011), in dem der Autor den Ursprüngen moderner antisemitischer Verschwörungstheorien iim Osmanischen Reich nachgeht, wie auch der Frage, warum derlei noch heute so populär ist, blieb allerdings in der Dokumentation unberücksichtigt. Einiges davon kann man auch im Kapitel “Die grosse Verschwörung” (Kreutz 2013) nachlesen: Vor allem im griechischsprachen Teil des Osmanischen Reiches waren Juden Schikanen ausgesetzt gewesen und mussten Übergriffe durch ihre christlichen Nachbarn fürchten.

An anderer Stelle zitieren die Autoren Bernard Lewis, wonach die islamischen Geschichte immer wieder “Perioden strikter, militanter Orthodoxie” erlebt habe. Lewis steht mit dieser These nicht alleine da, aber es gibt jemanden, der sie noch besser begründet hat, nämlich Ira M. Lapidus (1992), einer der besten Kenner der muslimischen Sozialgeschichte. Dass der Koran vielfach die Neigung aufweist, „die Welt eher hinzunehmen und zu modifizieren als sie radikal herauszufordern und zu verwandeln“ (Lapidus) steht im engen Zusammenhang mit dem Auftreten solcher, von Lewis beschriebenen Perioden. Lapidus selbst hat die islamistischen Bewegungen der Gegenwart als Teil eines grossen Kontinuums gesehen und nicht als etwas, das erst im frühen 20. Jahrhundert seinen Anfang genommen hat.

Das gilt auch für manche Aspekte des muslimischen Verhältnisses den Juden gegenüber. Das erste bekannte Edikt, das Juden verpflichtete, gelbe Kleidung zu tragen, wurde immerhin schon 849 verkündet (Goitein 1974, Schimmel 1995). Schon früh kam auch das Gerücht auf, die Schia sei die Gründung eines Juden namens ʿAbdallāh b. Sabaʾ. Wir finden diese Behauptung z.B. bei Ibn Taymiyya (14. Jhd.), für den die Schia überhaupt nur eine Mischung aus Judentum, Christentum und ġulūw (Übertreibung, vgl. Q 4:71, 5:77) ist – letzteres ein Begriff, der auch synonym für die Schia insgesamt benutzt wird (Friedman 2010). Die Juden als Spalter lässt sich als Motiv also schon lange vor irgendeinem europäischen Einfluss nachweisen.

Ironischerweise nehmen die Juden, ebenfalls negativ konnotiert, einen festen Bestandteil in der schiitischen Eschatologie ein. Nicht nur ist das Erscheinen des Mahdī, des „Rechtgeleiteten‟ und Wiederherstellers der Religion vor dem Jüngsten Gericht, an den Kampf um Jerusalem geknüpft. (Ourghi 2008) Auch der Daǧǧāl, der apokalyptische Gegenspieler des Mahdī, wird meist als einäugiger Jude von groteskem Aussehen beschrieben. (McCants 2015) Das erinnert schon sehr an modernen europäischen Antisemitismus.

Natürlich liesse sich noch weitere Literatur nennen und klar ist auch, dass soviel Fachliteratur zur islamischen Geschichte, zum Thema Islam und Minderheiten sowie Islam und Extremismus existiert, dass ein einzelner sie schon längst nicht mehr überschauen kann. Dennoch hätte hier etwas gründlicher recherchiert werden können. Ankreiden kann man auch, das Koranzitat vom nicht vorhandenen Zwang in der Religion aus dem Zusammenhang gerissen zu haben.

Letztlich aber man muss die Autoren dennoch dafür loben, dass sie sich um eine ideologiefreie Herangehensweise an ein politisch stark aufgeladenes Thema bemüht haben.


Literatur

Yaron Friedman. 2010. The Nuṣayrī-ʿAlawīs: An Introduction to the Religion, History and Identity of the Leading Minority in Syria. Leiden und Boston.

Shlomo D. Goitein. 1974. Jews and Arabs: Their Contacts Through the Ages. New York.

Michael Kreutz. 2013. Das Ende des levantinischen Zeitalters: Europa und die Östliche Mittelmeerwelt, 1821-1939. Hamburg.

Ira M. Lapidus. 1992. „Islamisches Sektierertum und das Rekonstruktions- und Umgestaltungspotential der islamischen Kultur“, in: Kulturen der Achsenzeit, Bd. II: Ihre institutionelle und kulturelle Dynamik, Teil 3: Buddhismus, Islam, Altägypten, westliche Kultur, hrsg. von Shmuel N. Eisenstadt. Frankfurt/Main, 161-88.

Ze’ev Maghen. 2006. After Hardship Cometh Ease: The Jews as Backdrop for Muslim Moderation. Berlin und New York.

William McCants. 2015. The ISIS Apocalypse: The History, Strategy, and Doomsday Vision of the Islamic State. New York.

Mariella Ourghi. 2008. Schiitischer Messianismus und Mahdī-Glaube in der Neuzeit. Würzburg.

Maurus Reinkowski. 2011. „Zionismus, Palästina und Osmanisches Reich: Eine Fallstudie zu Verschwörungstheorien im Nahen Osten‟, in: Judaism, Christianity and Islam in the Course of History: Exchange and Conflicts, hrsg. von Lothar Gall und Dietmar Willoweit. München, S. 93-104.

Annemarie Schimmel. 1995. Die Zeichen Gottes: Die religiöse Welt des Islams. München.