Im 19. und frühen 20. Jahrhundert gab es in verschiedenen Teilen der islamischen Welt kulturelle Erneuerungsbewegungen, vor allem auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches, einschliesslich des südöstlichen Europa. Hintergrund für diese kulturelle Erneuerung war der Geist des Nationalismus, der die Gemüter erfasst hatte, wobei Nationalismus hier nicht als dumpf-xenophobe Bewegung zu verstehen ist, sondern das Bestreben nach einem Nationalstaat meint, der zugleich ein konstitutionalistischer sein sollte. Vorbild war vor allem Frankreich, daneben England.

Immer ging es darum, dass ein zeitgemässer Nationalstaat, sei er griechisch, albanisch, ägyptisch, türkisch, zionistisch etc., zunächst die kulturellen Voraussetzungen benötigt, um überhaupt funktionieren zu können. An erster Stelle stand hierbei die Schaffung einer Nationalsprache und einer Nationalliteratur und damit einer nationalen Identität, in zweiter Linie die Durchführung gesellschaftlicher Reformen (darunter die Frauenemanzipation), die eine Konstitution dann absichert.

Die Argumentation dieser Reformer, Modernisierer und Humanisten war sehr originell und vor allem: ganz überwiegend säkular. Ich habe in meiner Monographie Arabischer Humanismus in der Neuzeit (2007) die wichtigsten Argumente von arabischer Seite vorgestellt. Natürlich blieb die Religion nicht aussen vor, aber bei den meisten Modernisierern war sie nicht der Ausgangspunkt ihres Denkens. Freilich sprang der Reformgedanke auch auf manchen Theologen über, sei er muslimisch oder christlich.

Die arabischer kulturelle Erneuerungsbewegung jener Zeit ist in der Fachliteratur unter dem Begriff Nahḍa (“Renaissance”) bekannt. In ihr waren auch viele Christen vertreten, die sich mit einem modernen, konstitutionalistischen Nationalstaat besser identifizieren konnten als mit einem islamisch legitimierten Grossreich. (Schaut man sich übrigens das Lemma “Nahḍa” in der Wikipedia an, so stellt man fest, dass die deutsche Wikipedia versagt, indem sie das Phänomen verzerrt darstellt, während der Eintrag in der englischsprachigen Ausgabe deutlich präziser ist.)

Halten wir fest: Bei den kulturellen Erneuerungsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts handelt es sich zuallererst um ein säkulares Phänomen, nämlich um die Herbeiführung eines kulturellen Wandels zur Implementierung moderner Staatlichkeit im Zeichen der Nation. Gerade im islamischen Raum waren Nichtmuslime aber überdurchschnittlich häufig unter den Vordenkern dieser Bewegung anzutreffen. So weit, so gut.

Nun gibt es einen Journalisten namens Christopher de Bellaigue. Der macht folgendes: Weil er seiner Leserschaft die Existenz einer “islamischen Aufklärung” präsentieren möchte, erzählt er in seinem Buch die Geschichte neu. Dazu lässt er nichtmuslimische Modernisierer der Nahḍa und angrenzender Erneuerungsbewegungen wie Jurji Zaydan, Yaqub Sarruf oder Sulayman al-Bustani aussen vor und vereinnahmt einen überwiegend säkularen Diskurs für den Islam. Fertig ist die “islamische Aufklärung”!

Das ist eine Mogelpackung, die sich aber sich in eine publizistische Tendenz fügt, dem Islam alle möglichen wissenschaftlichen und intellektuellen Leistungen zuzuschreiben, auch wenn der Islam keinen oder nur einen geringen Anteil an ihnen hatte. Wer also schon immer wusste, dass die islamische Welt keine Aufklärung nötig hat, der wird künftig auf das Buch von Christopher de Bellaigue verweisen – Mogelpackung hin oder her.