Alexander Dobrindt (CSU) mag ein Populist sein, aber er hat recht, wenn er sagt, dass kein islamisches Land auf der ganzen Welt eine vergleichbare demokratische Kultur entwickelt habe, wie wir dies aus christlichen Ländern kennen. Hat dieser Umstand etwas mit dem Islam zu tun? Die Bejahung dieser Antwort liegt nahe, denn einzelne Aspekte der Religionen sind immer auch in die Kultur eingegangen und waren an der Herausbildung eines Ethos, eines Weltbilds beteiligt, deren religiöse Ursprünge sich die Menschen häufig nicht mehr bewusst sind.

Gerade der Islam hat nun aber auch eine Sozialordnung hergebracht, die im Christentum keine rechte Analogie hat. Natürlich gibt es christliche Soziallehren, diese sind aber etwas anderes als eine Sozialordnung, wie sie in ihrer islamischen Form von Soziologen und anderen Forschern vielfach beschrieben worden ist. Dass religiöse Überzeugungen der Entwicklung einer Gesellschaft entgegenstehen können, ist spätestens seit Max Weber solide belegt.

Aktuell hat ein Papier der Weltbank Belege zusammengetragen, wonach die von der christlichen Orthodoxie geprägten Länder “prefer old, rather than new, ideas and safe jobs. Orthodox believers have more left-leaning political orientations and a stronger opinion that governments (versus people) should take more responsibility.” Mein ganzes Buch Zwischen Religion und Politik (2016) handelt von dieser Thematik, wobei ich auch auf die christliche Orthodoxie eingehe.

Derzeit steht der Islam im Zentrum einer weltweit geführten Debatte, inwieweit er sich mit den Kernbegriffen der modernen, liberal-demokratisch gefassten Gesellschaften zu arrangieren in der Lage ist. Auch hier gibt es gute Argumente für die These, dass der der Islam in seiner dominanten Form, nämlich der sunnitischen Orthodoxie, eine Reihe von Reibungspunkten aufweist. Die Legitimität religiös induzierter Gewalt ist nur eine davon.

Es liegt also die Vermutung nahe, dass der autoritäre Zustand, der Gesellschaft und Politik islamischer Länder kennzeichnet, etwas mit dem Islam zu tun hat. Keinen Grund zur Annahme hingegen gibt es, dass der Islam, der hierzulande gelebt wird, ein grundsätzlich anderer ist als der orthodox sunnitische, wie er in den meisten islamischen Ländern vorherrscht, womit deren gesellschaftlichen Probleme hierzulande unter Umständen dupliziert werden.

Darüber zu diskutieren ist insofern kein leichtes Unterfangen, als kritische Äusserungen über den Islam immer auch Wasser auf die Mühlen von Rechtsradikalen sein können. Aber was gesagt werden muss, sollte gesagt werden – auch auf die Gefahr hin, Beifall von unerwünschter Seite zu bekommen. Wie man es nicht machen sollte, zeigen nun zwei Islamwissenschaftler, die sich in einem fünfseitigen Papier unter dem Titel “Islam im Abseits?” zu den Thesen von Alexander Dobrindt geäussert haben: Alles wird heruntergespielt, kleingeredet, verniedlicht.

Statt den Ursachen dafür auf den Grund zu gehen, warum die islamische Welt in diesem Zustand ist und wie wir verhindern können, dass mit der muslimischen Migration auch eine islamisch geprägte Sozialordnung Einzug in unser Land hält und entsprechende Konflikte schafft (der Soziologe Ahmed Toprak hat einige Vorschläge zu diesem Thema gemacht), werden billige Floskeln gestreut, wie die, dass “europäische Reisende in der Vergangenheit” so häufig von der “Tradition interreligiöser und interethnischer Toleranz” der islamischen Länder beeindruckt waren, die “erst mit dem westlichen imperialen Anspruch auf das Schutzrecht für religiöse Minderheiten in der Region sowie durch die ebenfalls im 19. Jahrhundert aus Europa importierte Ideologie des Nationalismus zunehmend in Frage gestellt” worden sei.

Ersten ist das Unsinn, weil die Verfechter des Nationalismus in der islamischen Welt überdurchschnittlich häufig Christen waren, die sich über ein modernes Staatsverständnis die Erringung gleicher Bürgerrechte erhofften und keine Schutzbefohlenen mehr sein wollten, und zweitens weichen die Autoren der Frage aus, warum die islamischen Länder, wenn sie in der Vergangenheit doch so fortschrittlich gewesen sein sollen, nicht einfach wieder in ihren alten Zustand zurückkehren, anstatt im Autoritarismus zu verharren.

Aber unsere beiden Islamwissenschaftler wollen einfach nur den Islam verteidigen. Auch ihr Hinweis, dass es moderne, fortschrittliche Auslegungen des Koran gebe, dient nur diesem Zweck. Die eigentliche Frage, warum diese “modernen, fortschrittlichen Auslegungen” es so schwer haben, Akzeptanz in der Umma zu finden, wird ebensowenig angesprochen wie die Frage, wozu solche Auslegungen benötigt werden, wenn der Islam, wie die beiden Autoren meinen, keine Aufklärung nötig habe, die doch als europäisches Phänomen kein normatives Modell für die übrige Welt biete.

Ebenso dient der Verweis auf den hohen Rang, den die Vernunft in der islamischen Kultur der Vergangenheit eingenommen habe, nur dazu, Probleme der Gegenwart herunterzuspielen. Was die heutigen liberal-demokratischen Gesellschaften des Westens von den mehrheitlich islamischen Ländern unterscheidet, ist freilich nicht der Rang der Vernunft, der hier etwa höher bemessen wäre als dort, sondern die Freiheit des Individuums, auf der das politische Gemeinwesen sich aufbaut. Die Freiheit, die Vernunft öffentlich zu gebrauchen, ist es, was Kant unter Aufklärung verstanden hat.

Der Einwand, “der Topos des angeblichen Mangels an aufklärerischem Denken im Islam” übersehe, “dass die Muslime seit dem späten 18. Jahrhundert mit den entsprechenden Ansprüchen der Europäer meist im Zusammenhang mit europäischen imperialen Eroberungen oder mit den Modernisierungsmaßnahmen autokratischer muslimischer Herrscher konfrontiert waren”, zeugt von krasser Unkenntnis der Geschichte. Aufklärerisches Denken in den islamischen Ländern hatte ganz im Gegenteil Europa, genauer: Frankreich und England, zum Vorbild und richtete sich zuvörderst gegen die als Modernisierungshindernis empfundene osmanische Herrschaft.

Falsch ist auch die Behauptung, dass die europäischen Versprechen von Freiheit und Gleichheit “von vornherein auf der Strecke” blieben. Unter ʿAbdülḥamīds Herrschaft waren viele Syrer nach Ägypten gegangen, das unter englischer Herrschaft mehr Freiheiten bot. Allen Unabhängigkeitsbestrebungen zum Trotz – die sich zuallererst gegen die einheimische Elite richtete – genoss das Land unter der britischen Herrschaft immerhin eine relative Freiheit, wie Muḥammad Kurd ʿAlī 1909 bemerkte (s. dazu mein Buch Das Ende des levantinischen Zeitalters).

Die “autoritäre Modernisierungsdynamik”, die die Autoren beklagen, ist übrigens nicht immer schlecht, wie das Beispiel Südkorea zeigt. Kann man glauben, dass das Land in den 1960er Jahren ärmer war als sein Nachbar im Norden? Warum gelang hier die Transformation von oben? Die Antwort lautet: Weil sie von unten getragen wurde. Anders in der islamischen Welt: Dort sind Modernisierungsmassnahmen von oben meist am Widerstand von unten gescheitert.

Ein Beispiel: 1956 waren in Ägypten alle religiösen Gerichte abgeschafft worden, 1979 wurde ein säkulares Familiengesetz erlassen. Zur selben Zeit war aber schon eine Frömmigkeitsbewegung erstarkt, zu deren Auswirkungen gehörte, dass die Scharia von “einer” zur Hauptquelle der Rechtsprechung aufgewertet wurde. Sechs Jahre, nachdem es erlassen worden war, wurde das einst so fortschrittliche Familiengesetz wieder revidiert. Dieses Muster lässt sich übrigens über die islamische Geschichte hinweg finden, wie Ira M. Lapidus, ein vorzüglicher Kenner der islamischen Sozialgeschichte gezeigt hat.

Solche kulturellen Dynamiken und gesellschaftlichen Spannungen zu erforschen hat die ältere Generation der Islamwissenschaftler noch als ihre Aufgabe angesehen.