Keine Ahnung, was all die Redakteure und Blogger dazu treibt, unter der Rubrik “Comic” fast ausschliesslich sogenannten Graphiknovellen zu huldigen, die das Medium Comic der Belletristik gleichstellen wollen, am Ende aber häufig weder das eine noch das andere sind, sondern nur hochtrabende Geschichten, die in mittelmässige Bilder umgesetzt wurden.
Category: Lektüren
Schon in der ersten Zeile des Romans geht es los:
“Geräusche hinter der Wand, als würde ein Lastwagen immer wieder versuchen, durch die Wände durchzukommen.“
Diese zweifache Redundanz (“Wand/ Wände” und “durch … durchzukommen“) ist Teil einer ganzen Reihe unglücklicher Formulierungen und ungereimter Gedanken, die dem Leser allein auf den ersten Seiten des Romans “Ein von Schatten begrenzter Raum” von Emine Sevgi Özdamar (Berlin: Suhrkamp, 2021) begegnen.
Der Philosoph Hans Blumenberg war ein ungemein produktiver Autor. In seinem umfangreichen Nachlass fanden sich zahlreiche Rohmanuskripte und Anweisungen für Publikationen, die noch viele Jahre nach seinem Tod zu teilweise sehr umfangreichen Neuerscheinungen geführt haben.
Abseits aller akademischen Interessen bekenne ich mich zu einer Schwäche auch für die schöne Literatur, die in meiner Anschaffungsroutine freilich immer etwas zu kurz gerät. Zuweilen beziehe ich meine belletristischen Titel von Flohmärkten, die aber in Zeiten der Pandemie nicht zu haben sind. Gut, dass es Bücherschränke gibt!
Die meisten quellen nur so über vor Büchern, weil doch mehr abgegeben als mitgenommen wird. Aber unter Bergen von Schrott birgt der Geduldige doch auch manchen Schatz.
Einige Sachbücher sind auch dabei. Aber das Gros meiner Wahl trifft Bücher von belletristischer Natur und meist sind es Titel, die mir bis dato unbekannt waren und die ich mir nie gekauft hätte, es sei denn, ich hätte sie zufällig entdeckt.
Es versteht sich, dass meine Privatbibliothek nur Titel aufnimmt, die in sehr gutem Zustand sind. Das ist bei erstaunlich vielen Exemplaren, die in den Bücherschränken landen, der Fall.
Viele sind im Buchhandel gar nicht mehr erhältlich, was ihren Reiz für mich nur noch erhöht.
Auch fremdsprachige Bücher findet man zuhauf, wenn auch nicht unbedingt auf Arabisch oder in anderen, ähnlich exotischen Sprachen.
Es ist auch vorgekommen, dass ich Titel fand, die schon in meiner Sammlung vorrätig waren, doch nur in einer weniger wertvollen Ausgabe. Osterhammels “Verwandlung der Welt”, das nur als Lizenzausgabe der bpb in meinem Regal stand, wanderte in den Bücherschrank, nachdem ich ebendort eine gebundene Originalausgabe gefunden hatte. Dasselbe gilt für Savianos “Gomorrha”, dessen Taschenbuchausgabe der gebundenen Platz machte.
Schöne Sache, diese Bücherschränke.
Von Journalisten verfasste Bücher über den Nahen Osten basieren üblicherweise auf persönlichen Begegnungen und Eindrücken, die dann mit historischem Hintergrundwissen angereichert werden. Nicht so das Buch „The Strong Horse“ des amerikanischen Journalisten Lee Smith, der sich das ehrgeizige Ziel vorgenommen hat, den kulturellen Ursachen der eruptiven Gewalt, von der die Arabische Welt geprägt ist, auf den Grund zu gehen, um so weit mehr als eine Momentaufnahme der Arabischen Welt zu geben.
Mit einiger Verspätung habe ich Niall Fergusons Empire gelesen und manches denkenswerte darin gefunden. So war die englische Besiedelung Irlands nach Ferguson nicht die Ursache für den späteren, bis heute andauernden Konflikt, sondern als dessen Lösung gedacht. Hintergrund war die Furcht Englands, das katholische Spanien könnte über Irland auf Britannien zugreifen.
Zuerst wurden konfiszierte Ländereien an englische Siedler übergeben, bevor ab 1569 eine systematische Besiedlungspolitik betrieben wurde. Damals sprach man von “plantation”: Die Siedler als Weizen, die Einheimischen als Spreu – faktisch nichts anderes als ethnische Säuberung, meint Ferguson, obwohl das übetrieben sein mag.
Entscheidend aber ist: Irland wurde das Labor für die britische Kolonisierungspolitik, in dem gezeigt werden sollte, dass ein Imperium nicht nur auf Handel und Eroberung gebaut werden konnte, wie es z.B. die Spanier praktizierten, sondern ebenso auf Wanderung und Umsiedlung. Die Herausforderung war nun, dieses Modell jenseits den Atlantiks Wirklichkeit werden zu lassen. (55-7) Darin zeigt sich ein wesentlicher Zug des britischen Imperialismus, nämlich der massive Export von Kapital und Menschen. (379)
Zwar sprach der deutsch-jüdische Ökonomen Moritz Bonn vom Paradoxon, dass die USA die Wiege des modernen Antiimperialismus seien, zugleich aber ein mächtiges Imperium errichtet hätten. (352.) Dass die USA das britische Modell dennoch nie übernommen haben, vielmehr ihr Selbstverständnis auf der Vorstellung gründeten, eine Nation zu sein, die aus dem Kampf für Freiheit gegen ein bösartiges Imperium entstanden ist (85), bildet indes den tieferen Grund dafür, dass sie, so Ferguson, wohl immer eine Abneigung haben werden, über andere Völker zu herrschen. (379-80)
Niall Ferguson: Empire: How Britain Made the Modern World. London: Penguin, 2004.
Wenn es so etwas wie Religion nicht gibt, wie Peter Sloterdijk meint, sondern nur Übung, “Anthropotechnik”, was müsste dann vorhanden sein, um sagen zu können, es gebe Religion? „Die effektivste Weise, zu zeigen, daß es Religion nicht gibt, besteht darin, selbst eine in die Welt zu setzen.“ Das ist witzig formuliert, sagt aber nichts aus.
Sloterdijks These ist letztlich nicht falsifizierbar, weil sie nirgendwo konkret wird, wenn es um eine schlüssige Definition von Religion geht. Wie denn auch, so der logische Zirkelschluss, es ist doch alles nur Übung, „Komplexe von innen und äußeren Handlungen, symbolische Übungssysteme und Protokolle zur Regelung des Verkehrs mit höheren Stressoren und ‚transzendenten‘ Mächten – mit einem Wort Anthropotechnik im impliziten Modus.“ Und was nicht vorhanden ist, kann auch nicht definiert werden.
Das wirft eine weitere Frage auf: Kann man sich eine Welt vorstellen, die ohne Übung, also ohne geregelte Abläufe auskommt, die einen erheblichen Teil unseres Lebens strukturieren? Wohl kaum. Die Moderne ist eben keine “Hyperscholastik”, weil in der Vormoderne das Leben des einzelnen sehr viel stärker geregelten Abläufen, Übungen also, unterworfen gewesen sein dürfte, als es heute der Fall ist.
Weil Spiridion Louys, Sieger des Marathonlaufs der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit 1896 das Wort Training bis dahin kaum gehört haben dürfte, wertet Sloterdijk dies als Beleg für seine These, „daß sich der größte Teil allen Übungsverhaltens in der Form von nicht-deklarierten Thesen vollzieht.“ Diese auf einer blossen Vermutung ruhende Schlussfolgerung aber ist fragwürdig: Das Wort Training mag unser Marathonläufer nicht gekannt haben, aber möglicherweise das entsprechende neugriechische Wort (προπόνηση).
Wo Empirie und Logik ins Hintertreffen geraten, wird der Weg frei für eine konservative Kulturkritik, so, wenn es heisst, dass der Beseelung der Maschine “strikt proportional” die “Entseelung des Menschen” entspreche. In Maschinen etwas anderes zu sehen als Maschinen, scheint vielen Kulturkritikern nicht möglich zu sein. Hier schlägt die Leugnung der Existenz von Religionen selbst in ein metaphysisches Weltbild um, wozu auch die Halluzination gehört, dass sich die Völker im „Weltvolk des Internets“ aufhöben, um sich in „Medienfitness” zu üben.
Doch das muss nicht bleiben, denn: „Die einzige Tatsache von universaler ethischer Bedeutung in der aktuellen Welt ist die diffus allgegenwärtig gewachsene Einsicht, daß es so nicht weitergehen kann.“ Eine andere Welt ist machbar. Ihr müsst nur fleissig üben.
Peter Sloterdijk: “Du mußt Dein Leben ändern”: Über Anthropotechnik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009.