Die islamische Welt befindet sich in keinem guten Zustand. Warum das so ist, darüber hat sich schon mancher den Kopf zerbrochen. Der Religionswissenschaftler Michael Blume drängt in seinem Buch Islam in der Krise mit eigenen Thesen auf den Büchermarkt, die zwar nicht ganz zu überzeugen vermögen, sein Buch aber auch so zu einer durchaus angenehmen Lektüre machen.

Da wäre zum einen die These vom stillen Rückzug. Blume hat richtig beobachtet, dass viele Menschen muslimischer Herkunft, ob sie nun in Deutschland oder im Vorderen Orient leben, sich von ihrem Glauben entfremdet haben, nur noch äusserlich Muslime sind, was mit der Enttäuschung über den anhaltend schlechten Zustand der Islamischen Welt zu tun haben mag – die “Krise” aus dem Buchtitel. Die deutsche Öffentlichkeit, so Blume, nehme diesen stillen Rückzug aber kaum wahr, sondern sehe häufig nur Scharen von Muslimen, die ins Land drängen, ohne nach dem Grad ihrer Religiosität zu fragen.

Das ist insofern richtig, als tatsächlich viele Muslime nicht religiös sind, aber der Denkfehler liegt darin, den Islam überhaupt in Analogie zum Christentum sehen zu wollen. Tatsächlich hat der Islam soziale Strukturen hervorgebracht, die sich in einem erheblichen Mass an sozialer Kontrolle niederschlagen, der in der muslimischen Community herrscht. Auf diese Weise beugt man sich traditionellen muslimischen Moralvorstellungen häufig auch dann noch, wenn man sich innerlich der Religion entfremdet hat.

Viele Muslime im Westen leben daher eine Doppelidentität: Als Teil der Mehrheitsgesellschaft und als Teil der Umma. Ich habe selbst immer wieder erlebt, wie gewisse Dinge (ein Bier trinken gehen, gemeinsam Schweineschnitzel essen, in die gemischte Sauna gehen etc.) mit mir, einen Nicht-Muslim, kein Problem darstellen, aber auf einmal abgelehnt werden, sobald man sich in Gesellschaft von Glaubensgeschwistern befindet, d.h. es gibt einen sozialen Druck, der auf vielen Muslimen lastet und den sie nicht so leicht abschütteln können.

Das Phänomen der sozialen Kontrolle und damit der individuellen Unfreiheit vieler Muslime wird allerdings bis heute von der westlichen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, obgleich es darüber soziologische Studien gibt (so von Fatima Mernissi und Ahmet Toprak). Auch Blume, der ganz richtig erkannt hat, dass viele Muslime, die sich dem Islam entfremdet haben, damit nicht an die Öffentlichkeit gehen, fragt nicht nach dem Warum, sondern belässt es bei der Feststellung vom “stillen Rückzug”, der übrigens auch nicht neu sein dürfte, sondern den es vielleicht schon immer in den islamischen Gesellschaften gegeben hat, ohne dass sich daran etwas geändert hätte.

Stattdessen macht Blume zwei andere Ursachen für den wirtschaftlichen und Gesellschaftlichen Rückstand der islamischen Welt aus: Die Bildungsfeindlichkeit und den Rentier-Staat. Auch diese beiden Thesen stehen auf wackeligen Beinen.

Die Bildungsfeindlichkeit führt er auf Sultan Bayazid II. und dessen Verbot des Drucks arabischer Lettern 1485 zurück. Pate dieser These ist der Evolutionsforscher und Kirchenkritiker Ernst Haeckel. Fraglich ist, ob die Bildungsfeindlichkeit monokausal erklärt werden kann, zumal es im 19. Jahrhundert einen massiven Aufschwung an säkularen Bildungsinhalten gegeben hat, die durch Zeitschriften und Übersetzungen verbreitet wurden. Warum ist davon so wenig geblieben?

Hier müssen tiefere Ursachen am Werk sein, zumal Blume der populären, aber fragwürdigen Ansicht aufsitzt, früher einmal habe koranisch-arabisches Wissen und weltlich-empirisches Wissen einander berührt und befruchtet, bis dem ein Ende gemacht worden sei. Dabei war hier von Anfang eine gewisse Spannung vorhanden, die im christlichen Kontext vergleichsweise weniger scharf ausfiel, wo im 6. Jahrhundert ein Johannes Philoponos lehrte, dass die Welt nach ihrer Erschaffung immanenten Gesetzen überlassen sei.

Der Wissenschaftshistoriker Floris Cohen (2010) hat u.a. die Mongolen in Vorderasien dafür verantwortlich gemacht, dass Mitte des 11. Jahrhunderts die wissenschaftliche Entwicklung zu einem abrupten Ende gekommen sei, aber auch hier muss man fragen, warum diese Entwicklung später nicht wiederaufgenommen wurde. Die Entdeckungen und Erfindungen des Mittelalters, zu denen Muslime beigetragen haben, führten jedenfalls nicht zu einer dauerhaften gesellschaftlichen Umgestaltung, die eine international wettbewerbsfähige Wissenschaft und Forschung verstetigt hätte.

Blume ist zwar rechtzugeben, wenn er dafür den herrschenden Klientelismus als zentrale Ursache ausmacht. Weniger überzeugend ist, dass er diesen mit der Rentierstaatstheorie erklärt, derzufolge es einen engen Zusammenhang von Öl und Klientelismus gibt. Das mag für sich genommen einleuchtend sein, erklärt aber nicht, warum auch derjenige Teil der Islamischen Welt, der über keine Ölvorkommen verfügt, unter Klientelismus und einem Mangel an good governance leidet. Auch hier müssen tiefere Ursachen am Werk sein, zumal der Zusammenhang zwischen Öl und Klientelismus auch nur ein wahrscheinlicher, aber kein notwendiger ist.

Dass die in der Islamischen Welt so ausgeprägte Neigung, Verschwörungsmythen auf den Leim zu gehen, Ausdruck einer Bildungskrise sein soll, wie Blume glaubt, ist eine populäre Annahme, der jedoch schon Shadi Hamid (2014: 74) einen gehörigen Dämpfer verpasst hat. Antijüdische Verschwörungsmythen sind denn auch nicht „tief‟ in die islamische Theologie „eingedrungen‟, sondern haben, wie jeder seit Zeev Maghen (2006) wissen kann, nicht zuletzt in der sīra des Propheten eine gewisse Grundlage im sunnitischen Islam. Ganz ähnlich sind schon im Mittelalter die Schiiten (entgegen der historischen Wahrheit) beschuldigt worden, den Fall der ostmediterranen Küste und vor allem Jerusalem in die Hände der Kreuzritter verursacht zu haben (Friedman 2010: 187).

An  Islam in der Krise liessen sich noch ein paar kleinere Mängel benennen: ʿAlī b. Abī Ṭālib war nicht der dritte, sondern der vierte Kalif; die Sure 2:256 „Es gibt keinen Zwang im Glauben‟ zitiert Blume ausserhalb ihres Kontextes; es heisst nicht al-Saud, sondern Al Saud (Āl Saʿūd); „Eroberung‟ heisst auf Arabisch fath (fatḥ), nicht fatih (fātiḥ = Eroberer). Diese und andere Kleinigkeiten fallen aber nicht sonderlich ins Gewicht.

Trotz dieser Schwächen ist das Buch, wie oben angesprochen, eine angenehme Lektüre, denn Blume hat, anders als so viele Pseudo-Experten, grundsätzlich verstanden, dass die Ursachen des Zustandes, in dem sich die Islamische Welt befindet, hausgemacht sind. Zu recht kritisiert er die unter Muslimen so häufig anzutreffende Neigung, immer andere für das eigene Unglück verantwortlich zu machen und den Islam zu einer eigentlich friedlichen und toleranten Religion zu verklären.

Ebenfalls zu recht mahnt er einen kritischen Blick auf die eigene Geschichte an und gibt seinem Befremden darüber Ausdruck, dass nicht wenige junge Muslime an die vermeintlich höhere Moral der muslimischen Eroberer glauben. Richtig erkannt hat Blume auch, dass bei vielen ein krasses Schwarz-Weiss-Denken (Blume: „Pathologischer Dualismus‟) herrscht, wenn es um den Islam und den Westen geht, dass andererseits aber auch westliche Islamkritiker manchen Humbug verbreiten: So erteilt er allzu simplen Annahmen über einen Zusammenhang von Religiosität und Fruchtbarkeit ebenso eine Absage wie den Statistik-Mogeleien eines Thilo Sarrazin.

Zustimmen muss man ihm auch, was seine Haltung gegenüber der Kritik anbetrifft, die man am „Moscheereport‟ des Journalisten Constantin Schreiber geäussert hat: Mag ja sein, dass da nicht ganz sauber gearbeitet wurde, aber, so Blume, warum machen Wissenschaftler keine eigenen Stichproben in den deutschen Moscheen? Seine Warnung, die Bedeutung von Kultur nicht zu unterschätzen und zu glauben, allein über die Schulen liessen sich allen Zugewanderten demokratische Werte einimpfen, trifft zur Gänze ins Schwarze.

Auch wenn die zentralen Thesen von Islam in der Krise auf wackeligen Beinen stehen, so machen es die vielen Einzelbeobachtungen zu einer anregenden Lektüre. Sein Autor versteht es zudem, nicht in die Polarisierungsfalle zu tappen, sondern beschreitet einen Mittelweg, indem er die Ursachen für ihren gegenwärtigen Zustand in der Islamischen Welt selbst verortet, ohne den Islam selbst zu dämonisieren. Das allein ist viel wert.

Michael Blume: Islam in der Krise: Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug. Ostfildern 2017, 192 Seiten, Euro 19,00.

 

LITERATUR
– Floris Cohen: Die zweite Erschaffung der Welt, Frankfurt/New York 2010.
– Yaron Friedman: The Nuṣayrī-ʿAlawīs: An Introduction to the Religion, History and Identity of the Leading Minority in Syria, Leiden und Boston 2010.
– Shadi Hamid: Temptations of Power: Islamists and Illiberal Democracy in a New Middle East, Oxford und New York 2014.
– Ze’ev Maghen: After Hardship Cometh Ease: The Jews as Backdrop for Muslim Moderation, Berlin und New York 2006.