Wenn ein Fussballer wie Mesut Özil zum Objekt von Rassismus wird, ist das scharf zu verurteilen. Hier kann er voll und ganz auf meine Solidarität zählen. Was jedoch den ganzen Rest seiner aktuellen Stellungnahme angeht, die er anlässlich der sich zuspitzenden Kontroverse um seinen Besuch beim türkischen Präsidenten Erdogan abgegeben hat, so vermag sie nicht zu überzeugen.
Month: July 2018
Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, ein Buch über hartnäckige Falschbehauptungen über den Islam zu schreiben. Nicht, dass ich den Anspruch hätte, den wahren Islam zu kennen oder alles über den Islam zu wissen, doch lassen sich in der öffentlichen Debatte über den Islam Behauptungen ausfindig machen, die einfach nicht haltbar sind.
Eine dieser Falschbehauptungen ist die, dass so viele Islame wie Muslime existierten, dass also Aussagen über den Islam unmöglich seien, weil es “den” Islam gar nicht gebe. Die Intention hinter dieser Behauptung ist allzu deutlich: Der Islam (den es nicht gibt), soll gegen jede Kritik abgeschirmt werden, die dann als Essentialismus geschmäht und mit dem Diskursausschluss geahndet wird.
Dies ist aus drei Gründen falsch.
Erstens gibt es das in keiner Religion, dass die Anzahl ihrer Deutungen der Anzahl ihrer Glaubensmitglieder entspricht. Vielmehr haben wir es meist mit mehreren Konfessionen zu tun, in denen es dann noch einmal konkurrierende Strömungen gibt. Im Christentum sind das Katholizismus, Protestantismus und Orthodoxie, die ihrerseits meist in eine konservative und eine progressive Strömung gespalten sind. Ähnlich ist es im Judentum, dass sich im wesentlichen in orthodoxes, konservatives und Reformjudentum aufspaltet, innerhalb derer es dann noch Unterformen geben mag.
Auch im Islam ist das so. Hier haben wir es im grossen und ganzen mit einem sunnitischen und einem schiitischen Islam zu tun, wobei etwa 85% der Muslime weltweit dem Sunnitentum zugehören. Eine gibt eine gewisse Bandbreite innerhalb des sunnitischen Islam, doch darf man nicht übersehen, dass alle Offenbarungsreligionen eine formative Phase durchgemacht haben, in der theologisch die Spreu vom Weizen getrennt wurde. Denn jede Religionsgemeinschaft ist genau dies: Gemeinschaft. Als solche steht sie einer vollständigen Individualisierung (nicht zu verwechseln mit Verinnerlichung) entgegen.
Muslimische Juristen haben auf Grundlage der Offenbarung eine Systematik erstellt, die Willkür in der Exegese vermeiden sollte. Somit ist eine Tradition des Rechtswesens entstanden, innerhalb derer der Spielraum für exegetische Abenteuer recht stark eingeschränkt ist. Natürlich kann man sich über die Tradition hinwegsetzen und den Koran frei interpretieren, aber auch hierbei sollte man sich im Klaren darüber sein, dass es “Grenzen der Interpretation” (so der Titel eines Buches von Umberto Eco) gibt. Der Koran mag manchen Deutungsspielraum erlauben, aber wie andere Texte auch lässt sich in ihn nicht alles hineinlesen, will man Inkohärenz nach Möglichkeit vermeiden.
Zweitens müssten alle “Islame” etwas gemeinsam haben, um unter einem Begriff zu firmieren. In dieser Schnittmenge würden sich sicherlich die beiden Maximen der Schadaha wiederfinden und mindestens der Bezug auf die Offenbarung. D.h. selbst wenn es so viele Islame wie Muslime gäbe, dürften die Gemeinsamkeiten in den meisten Fällen grösser sein als die Unterschiede. (Nur am Rande: Im Arabischen heisst es al-Islām “der Islam”. Wie hiesse eigentlich “Islame” auf Arabisch: asālīm? islāmāt?)
Drittens, und das ist der wichtigste Einwand, dürfte nur eine Minderheit der Muslime selbst glauben, dass es eine Vielzahl von “Islamen” geben soll. Dazu muss man wissen, dass Islamapologetik in einem westlichen Land wie Deutschland tendentiell anders funktioniert als in mehrheitlich muslimischen Ländern. Wenn hierzulande jemand etwas Positives über Angehörige anderer Konfessionen sagen will, dann tut er dies meist mit einem Verweis auf den Reichtum, der in der Vielfalt steckt. Anders in muslimischen Ländern: Will ein Muslim etwas Positives über Christen oder über Europäer sagen, dann wird er mit Sicherheit das Einssein betonen. “Wir sind doch eins” heisst es dann, oder: “Zwischen uns gibt es keinen Unterschied.”
Da in unserer Kultur Vielfalt und Pluralismus positiv konnotiert sind, neigen hierzulande sozialisierte Muslime dazu, dem Islam Vielfalt und Pluralismus als zentrale Eigenschaften zuzusprechen. Daher hören wir immer wieder die Behauptung, “den” Islam gebe es doch gar nicht, dies sei doch nur Essentialismus, dem Islamkritiker wie Islamisten gleichermassen aufsässen. Tendentiell anders dagegen argumentieren Muslime, die in einem muslimischen Land sozialisiert wurden. Da in muslimischen Ländern Pluralismus und Vielfalt eher negativ konnotiert sind, weil beide Begriffe mit Spaltung und Schwächung in Verbindung gebracht werden, wird die Vorstellung, dass es mehr als einen Islam geben könnte, meist deutlich zurückgewiesen. Hierzu zwei Beispiele:
In meinem Bekanntenkreis gibt es einen türkischen Muslim, den ich aus Studientagen kenne. Er ist in der Türkei geboren und aufgewachsen und kam als Erwachsener zum Studium nach Deutschland. Deutsch beherrscht er fliessend, aber es ist nicht seine Muttersprache. Heute arbeitet er als Islamlehrer in Deutschland. Dieser Mensch sagte mir vor einigen Jahren einmal: “Für euch Westler gibt es einen liberalen Islam, einen konservativen Islam, einen fundamentalistischen Islam usw. – aber für uns Muslime gibt es das alles nicht. Für uns gibt es nur Islam!”
Während also für die einen, meist europäisch sozialisierten Muslime, das typisch westliche Vorurteil in der Behauptung besteht, es gebe so etwas wie “den” Islam, besteht für die anderen, meist orientalisch sozialisierten Muslimen, das typisch westliche Vorurteil in dem Glauben, es gebe mehr als einen Islam! Je nachdem, mit welchen Muslimen man es zu tun hat, kann man als Westler dem Vorwurf, Vorurteile gegen den Islam zu hegen, praktisch nicht entkommen.
Beispiel zwei ist Ahmad at-Tayyeb, seines Zeichens Grossscheich der ägyptischen Azhar. Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass at-Tayyeb auf Einladung des damaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert vor zwei Jahren zu Gast im deutschen Bundestag war. Damals durften nach seinem Vortrag auch Fragen aus dem Publikum gestellt werden und so hatte einer der Fragesteller wissen wollen, wie es um das Projekt eines europäischen Islam bestellt sei.
Grossscheich at-Tayyeb gab eine bemerkenswerte Antwort: Einen europäischen Islam könne es nicht geben und mache keinen Sinn, da der Islam auf ganz einfachen Prinzipien beruhe, die überall auf der Welt gleich seien und folglich auch in China sogar auf dem Mond. Ergo: Es gibt nur einen, nur “den” Islam.
Ahmad at-Tayyeb spricht natürlich nicht für alle Muslime und noch nicht einmal für alle Sunniten, aber er spricht sicherlich für sehr viele Muslime. Er muss noch nicht einmal recht haben, denn natürlich gibt es mindestens eine Zweiteilung in einen sunnitischen und einen schiitischen Islam, aber der Punkt ist: In seiner Weigerung, die Existenz unterschiedlicher Varianten der eigenen Religion anzuerkennen, steht er nicht als Exot da. Es ist einfach das, was die Gläubigen mehrheitlich in muslimischen Ländern glauben dürften.
Wer also behauptet, es gebe “den” Islam gar nicht, mag damit zwar recht haben, doch folgt daraus weder, dass es so viele Islame wie Muslime gibt, noch, dass eine Mehrheit der Muslime diese Meinung teilt. Daran, dass es nur einen, nur “den” Islam gibt, glauben bei weitem nicht nur Islamisten und Islamkritiker.
Nachtrag, 6. November 2018
Auch Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland, bekennt sich auf Twitter zu der Auffassung, dass es “nur einen” Islam gebe.
Alle Interessentinnen und Interessenten bitte vormerken: Voraussichtlich Ende des Jahres wird bei Springer VS der Sammelband ISLAM UND REFORMATION erscheinen, an dem ich als Herausgeber, Autor und Übersetzer beteiligt bin. Meine Mitherausgeber sind Jörgen Klußmann (Ev. Kirche im Rheinland) und Aladdin Sarhan (LKA Rheinland-Pfalz).
Die einzelnen Beiträge stammen von profilierten Fachleuten aus dem In- und Ausland, darunter Martin Riexinger, Assem Hefny, Mona Abu Zaid, Jörn Rüsen, Mouhanad Khorchide, Marwan Abou Taam, Amel Gramy u.a.m. Sie gehen zum grössten Teil auf eine Tagung von 2016 zurück. Weitere Informationen gibt es zu gegebener Zeit an dieser Stelle.
Hier noch etwas für die gute Laune:
Rassismus und Depressionen sind ernste Themen. Hier geht es aber nicht um diese Probleme als solche, sondern um den Umgang mit ihnen in der arabischen Welt, was natürlich etwas über deren Gesellschaften aussagt. Ein Beitrag von “Alhurra” sieht das Grundübel im Selbstverständnis, wie es in arabischen Ländern weit verbreitet ist: Wir sind die grossartigste Nation (umma) auf Erden, gegen die alle anderen sich verschworen haben.
Obwohl der Prophet selbst gesagt haben soll, dass es zwischen dem Araber und dem Nicht-Araber keinen Unterschied ausser in der Frömmigkeit gibt, so herrscht doch in der arabischen Welt ein virulenter Rassismus. Dieser Rassismus wird geleugnet, was nicht verwundert, aber viele leugnen ihren eigenen Rassismus mit Verweis auf besagten Spruch des Propheten.
Diese Leugnung erstreckt sich auch auf andere Gebiete, z.B. psychische Erkrankungen. Bei uns gibt es keine psychischen Depressionen, weil wir den Islam haben – so lautet eine weitverbreitete und sehr bequeme Einstellung. Der Islam ist eine grossartige Religion, da kann es so etwas nicht geben. Depressionen gibt es nur im Westen und zwar deshalb, weil der Westen spirituell verarmt ist.
Der Autor des Beitrags, Abdalhafiz Sharaf, weist darauf hin, dass das natürlich Unsinn ist. Der Westen stellt sich den Problemen seiner Gesellschaften, erforscht Phänomene wie Rassismus und psychische Depressionen und erfasst diese in Statistiken. Die arabisch-islamische Welt hingegen lebt in der Illusion, dass es nichts zu erforschen und zu debattieren gibt. Das ist der Unterschied und dieser Unterschied hat Auswirkungen.
Denn eine solche Einstellung bedeutet nicht nur, dass keine Forschung zum Thema stattfindet, sondern dass Menschen, die an Depressionen leiden, stärker als im Westen gehemmt sind, sich anderen Menschen anzuvertrauen. Schlimmer noch: Wer über psychische Depressionen oder andere heikle Themen spricht, so die gängige Überzeugung, ist verwestlicht, hat sich der eigenen Gesellschaft entfremdet und versucht nur, die arabische bzw. islamische Kultur schlechtzumachen.
Ein Freund von mir, den ich aus meiner Zeit in Syrien kenne, leidet nun als Flüchtling in der Türkei unter beidem: Unter psychischen Depressionen wie unter dem Rassismus der Mehrheitsgesellschaft. Heute schrieb er mir (wie passend zu dem Beitrag in “Alhurra”), wie sehr syrische Flüchtlinge in der Türkei gegängelt werden und wie man sie permanent spüren lässt, dass sie dort unerwünscht seien. Gestern ging er zur Apotheke, um sich sein Medikament abzuholen, doch war das Haltbarkeitsdatum, wie er hinterher feststellte, abgelaufen. Darauf angesprochen, erwiderte der Apotheker, niemand könne beweisen, dass das Medikament vom ihm sei und warf ihn hinaus.
Der Konformitätsdruck ist, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, das zentrale Problem der muslimischen Gesellschaften, denn eine Gesellschaft, die ihre eigenen Probleme leugnet und sie unter den Teppich kehrt, wird immer politisch instabil und ökonomisch schwach bleiben. Ein Beitrag wie der von Sharaf kann daher nur auf einem Medium wie “Alhurra” erscheinen – einem arabischsprachigen Fernsehsender, der seinen Sitz in den USA hat.
Genau aus diesem Grund muss er freilich Propaganda sein und Teil der Verschwörung gegen den Islam.
Eine Kleinigkeit muss ich heute noch loswerden. Es geht um das Journal of Contemporary Antisemitism. Eine feine Sache, dieses Journal, dessen Gegenstand von ungebrochener Aktualität ist und gerade deshalb auch der akademischen Aufmerksamkeit bedarf.
Man weiss es ja nicht so genau. In jedem von uns kann ein rassistisches Monster stecken, das unsere Gedanken kontrolliert, ohne dass wir es merken. Gut, dass es die “Campus”-Beilage der “Zeit” gibt. Diese hat einen putzigen Fragebogen entwickelt, mit dem sich jeder gewissermassen selbst auf den Zahn fühlen kann.