Wenn ich Wing Tsun praktiziere, dann in der Absicht, mit der Zeit ein immer tieferes und reflektierteres Verständnis für die Kampfkunst zu gewinnen. Manchmal gibt es dann kleine Momente der Erleuchtung, die mich auf eine Spur führen, der ich nachgehe.
So habe ich vor einiger Zeit mit einem Anfänger trainiert (knapp ein Jahr Erfahrung), der grösser und kräftiger war als ich (auch an die zwanzig Jahre jünger). Ihm wurden schnell die Arme schwer und er bat mich, die Rollen zu tauschen. Er wollte sehen, wie ich seine Angriffe (Jab und JabCross) abwehre. «Das gibt’s doch nicht», sagte er. «Der steht da wie ein Baum.»
Eine ähnliche Erfahrung machte ich mit einem anderen Trainigspartner, schon weit fortgeschritten, der meinte, ich hätte wohl eine Schulter aus Eisen. Ich schreibe das hier nicht aus Angeberei, sondern weil es für dieses Pänomen, Schläge abwehren zu können, ohne schnell zu ermüden, eine Erklärung gibt.

Die Erklärung liegt in einer grundsätzlichen Fähigkeit, nicht in einer speziellen Technik. Soll heissen: In der ersten Unterrichtsstunden Wing Tsun lernt man, gerade zu stehen. Wie praktisch alle anderen Wing Tsun-Adepten auch habe ich das lange Zeit nie richtig verinnerlicht, weil ich diese Anweisung immer nur dem Augenschein nach umgesetzt habe.
Tatsächlich kommt es darauf an, die Lendenwirbel durchzustrecken, damit die thorako-lumbale Faszie (TLF) voll funktionieren kann. Bei der TFL handelt es sich um ein rautenförmiges, mehrschichtiges Bindegewebe im unteren Rücken, das vollgestopft ist mit Rezeptoren. Die kinetische Energie, die ich vom Trainingspartner aufnehme, kann ich so nach unten in den Boden hin ableiten.
In der chinesiscchen Kampfkunst sitzt im unteren Rücken gegenüber dem Bauchnabel das «Tor des Lebens» (名门 mìng mén), von dem man sich vorstellt, es zu öffnen, um die Energie (氣/ 气 qì) zwischen oberer und unterer Körperhälfte fliessen zu lassen. «Öffnen» meint hier einen Zustand der Entspannung.
Entspannung ist nicht mit Schlaffheit zu verwechseln. Das traditionelle chinesische Schriftzeichen dafür (鬆 sōng) bringt diesen Zustand bildhaft zum Ausdruck, indem das obere Element «Haar» bedeutet, das untere «Pinie»: Man steht gelassen, doch zugleich fest. Entspannung ist also eher eine Form von Gleichgewicht.
Die Energie, die ich dem Traininspartner einflösse, generiere ich von dem niedrigsten Punkt meines Körpers und transportiere ihn über sieben Gelenke (Zehen, Sprunggelenk, Knie, Hüfte, Schulter, Ellbogen, Hand) nach vorne. In beide Richtungen kann der Energiefluss nur funktionieren, wenn die Hüfte die TLF nicht blockiert.
Energie ableiten statt absorbieren
Die TLF ist wie ein eingebauter Turbo im Rücken, den zu aktivieren Mutter Natur uns aber keine Gebrauchsanweisung mitgegeben hat. Wenn man die Lendenwirbel nicht durchstreckt und entspannt ist, ist man gezwungen, die aufgenommene Energie mit den Armen und den Schultern zu absorbieren – und das strengt an.
Ist der Energiefluss ungehindert, werden Arme und Schultern entlastet. Um die Lendenwirbel zu strecken, muss man seine Haltung so korrigieren, als werde man mit dem Rücken an einen Laternenpfahl gebunden. Alternativ kann man sich vorstellen, die eigenen Füsse wären am Boden festgetackert, während jemand von hinten seine Faust sanft in unseren Rücken drückt.
Dadurch gehen auch die Schultern automatisch nach hinten und stehen wir sehr viel stabiler. Wir müssen auch nicht dauernd den Stand wechseln und uns irgendwo abstützen, sondern entwickeln eine Art von innerer Kraft und Ruhe. Nebenher wird die Gefahr für Rückenschmerzen reduziert und das Hohlkreuz abtrainiert.
Ich habe das lange Zeit intuitiv gemacht, ohne etwas von TLF und dergleichen mehr zu wissen. Erst der Feedback durch meine Trainigspartner hat mich auf den Gedanken gebracht, über diese Dinge nachzuforschen. Das Bindegewebe mit seiner extrazellulären Matrix (EZM) wiederum lässt sich gegen einen Angreifer sehr viel besser ansteuern, um ihn abzuwehren.
Um das Bindegewebe gab es früher einmal einen Hype, der nicht immer seriös war und esoterische Untertöne hatte, aber das sollte einen nicht davon abhalten, es besser verstehen zu lernen und zu trainieren. Dann kann man Effekte wie in diesen beiden Videos erzeugen (nur ein paar Sekunden ab der voreingestellten Zeit):
Diese Kraft kommt nicht vom Bizeps! Ich selber beherrsche das übrigens nur auf einfachem Niveau. Davon abgesehen, auch das habe ich gelernt, sollte man die Muskulatur deswegen nicht vernachlässigen, spielt sie doch eine wichtige Rolle bei der Kollagensynthese, sodass zusätzliches Krafttraining auf jeden Fall eine sinnvolle Sache ist.
			
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