Kontingenz, also die Offenheit historischer Entwicklung, ist seit langem ein populäres Schlagwort unter Historikern, Soziologen und Philosophen, was insofern erstaunt, weil das Gegenteil, die Geschichtsteleologie, also der Glaube an eine innere Logik der Geschichte, in den Geisteswissenschaften vor langem ad acta gelegt wurde.

Der Historiker Rodulf Schlögl macht in seinem neuen, monumentalen Buch über «Europas frühe Neuzeit» reichlich Gebrauch von dieser Vokabel, wenn er den Ursprung der Moderne zu ergründen sucht. Kontingenz hin oder her, so lassen sich gleichwohl wichtige historische Stationen auf dem «Weg in die Moderne», so der Buchtitel, markieren.
Dazu gehört die Medienrevolution, seitdem Mönche durch Abschriften das Wort Gottes und dessen Interpretation durch die Kirchenväter verbreiteten und so den Gebrauch der Alphabetschrift über das Ende des römischen Imperiums in Westeuropa fortsetzten.
Ein auf Privilegien basierendes Herrschaftssystem wiederum wich nach und nach einem durch Gesetze regulierten öffentlichen Raum, in dem Sonderrechte allenfalls als Ausnahmen zulässig waren, nicht mehr aber als unangefochtene Tradition. Anstelle des Privilegs trat später das Eigentum, das seine Legitimation aus der Bedeutung für die Gesellschaft zog.
Von der Immanenz zur Globalisierung
Damit ist schon die Tendenz zur Säkularisierung gegeben, denn nun galt alles, was im öffentlichen Raum geschah, als Ergebnis eigener Gesetzmässigkeit und nicht mehr als Folge der Providenz Gottes. Auch die Herrschaft konnte sich nicht länger auf diese berufen, womit der Adel zunehmend als Relikt der Vergangenheit bekämpft wurde, um schliesslich einer markt- und geldbasierten Wirtschaft Platz zu machen.
Diese Entwicklung ging einher mit den zahlreichen Städtegründungen seit dem 12. Jahrhundert, die eine «Verschriftlichung des Rechts und eine von systematisiertem Wissen getragene Ausbildung» begünstigten. Politisch-rechtliche Rahmenbedingungen ersetzten so persönliche Bindungen im Handel, der kulturelle Grenzen überschritt und Warenpräsenz obsolet machte, also das vorbereitete, was wir heute Globalisierung nennen.
Wie Schlögl betont, ist hierbei immer alles kontingent, folgt nie das eine zwingend aus dem anderen, obwohl immer auch Eigenlogik am Werke ist, die manche Entwicklung wahrscheinlicher machte als andere, ohne damit die gesamte Entwicklung vom Mittelalter zur frühen Neuzeit erklären zu können. Die Systemtheorie von Niklas Luhmann beurteilt Schlögl gleichwohl kritisch.
Einerseits folgt er Luhmann darin, dass eine vormoderne Institutionenkultur sich zu stabilisieren wusste, obwohl die Motivlagen ihrer Mitglieder persönlicher Natur waren und der Rationalität widersprachen. Andererseits, so Schlögl, könne dies aber nicht die Dynamik erklären, die letztlich zur Entstehung einer rationellen Verwaltung führte, wie sie für die Moderne kennzeichnend ist.
Schlögl findet hierfür eine bessere Erklärung bei Max Weber, der den Schlüssel dazu in der Eigenlogik der Verwaltung und ihrer Fähigkeit zur Reflexivität vermutete. Dies wiederum setzte eine Öffentlichkeit voraus und es wäre interessant gewesen, wenn Schlögl hier das eine oder andere Schlaglicht auf den ost- und aussereuropäischen Raum geworfen hätte.
Aus einer vergleichenden Perspektive jedenfalls lässt sich in den Geisteswissenschaften meist viel mehr Erkenntnis ziehen als aus der Anwendung noch so überzeugender Theorien. Dazu hätte er nur die eine oder andere Sekundärquelle berücksichtigen müssen, darunter Floris Cohens «Die zweite Erschaffung der Welt» u.a.m.
Auch die Rolle der Bibelkritik im Wandel von der Transzendenz zur Immanenz bleibt unberücksichtigt, die abermals ein westeuropäisches Phänomen war. Denn was Schlögl hier als Europas frühe Neuzeit beschreibt ist allein auf den Westen des Kontinents bezogen. Dennoch handelt es sich um ein starkes Buch, das erfreulicherweise im Open Access verfügbar ist.
Schlögl, Rudolf. 2025. Europas Frühe Neuzeit: Geschichte und Theorie einer Gesellschaft auf dem Weg in die Moderne. 1. Auflage. Göttingen: Wallstein Verlag, 783 Seiten, € 40,00.
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