Wieder einmal wundern wir uns, was so alles auf dem Buchmarkt als vorgebliche Belletristik gehypt wird. Der Roman «22 Bahnen» fängt tatsächlich mit einer Einkaufsliste an, also einer Liste von Substantiven. Es folgt der krptische Satz:
«Ich spiele: Ich darf nicht hochschauen.»
Spielen? Was oder womit die Ich-Erzählerin spielt, wird nicht recht klar. Spielt sie eine Rolle? Spielt sie mit den Lebensmitteln, die sie in ihren Rucksack schaufelt? Daddelt sie auf ihrem Smartphone herum? Dann bekommen wir eine Ahnung: Sie will etwas erraten.
Denn plötzlich steht eine Person vor ihr und versucht die Ich-Erzählerin, den Blick auf den unteren Rand des T-Shirts geheftet, das die Person trägt, die Marke zu erraten, bevor sie den Schriftzug ebendieser Marke auf dem T-Shirt erblickt und weiss, dass sie richtig geraten hat. Für sie ist das
«… ziemlich cool und vielleicht sogar der bisherige Höhepunkt meines Tages.»
Gut, wir haben verstanden: Das Leben der Ich-Erzählerin ist furchtbar trist, wenn sie sich mit dem Erraten von T-Shirt-Marken abgibt. Aber macht uns das neugierig auf den weiteren Fortgang der Erzählung? Jedenfalls nicht, wenn man – wir sind immer noch beim ersten Absatz! – weiterliest.
Zuerst nämlich wird von der Person, die sich da vor der Ich-Erzählerin aufbaut, vermutet, dass sie männlich ist. Doch da hat die Ich-Erzählerin ihren Blick noch nicht nach oben gewendet, also zum Kopf der unbekannten Person:
«Es ist zwar eine jüngere Frau, aber das T-Shirt richtig zu erraten ist schon stark.»
Wir wollen jetzt nicht kleinlich sein und das fehlende Komma nach dem erweiterten Infinitiv bemängeln (wurde das Skript denn gar nicht lektoriert?), sondern uns für einen Moment vorzustellen versuchen, wie man auf ein T-Shirt blicken und einen Mann darunter vermuten kann, der sich erst beim Blick auf das Gesicht als Frau entpuppt.
Sehr seltsam. Des weiteren stellt sich die Frage, was daran einer Mitteilung wert sein soll, dass die Ich-Erzählerin die Marke eines T-Shirts errät, bevor sie deren Schriftzug auf der Vorderseite entdeckt. Womit wir zum zweiten Absatz dieses Bestsellers kommen.
Darin wird der nächste Einkauf aufgelistet, dann der Preis genannt, der an der Supermarktkasse gezahlt wird, gefolgt von der Information, dass die Ich-Erzählerin die gekauften Sachen in ihren Rucksack stopft und zum Bahnhof rennt.
Sebst, wenn es die Absicht der Autorin sein sollte, das Leben der Ich-Erzählerin als eines zu schildern, das banaler nicht sein könnte, so wird daraus noch kein Romananfang, der neugierig macht, sondern eben nur ein Text, der banaler nicht sein könnte.
Dann werden wieder Substantive aufgelistet (wir sind immer noch auf der ersten Seite des Romans!), die Autorin schreibt «reinpasst» statt «hineinpasst» (nein, der Text kann unmöglich lektoriert worden sein), dann macht die Ich-Erzählerin der Anblick eines Wortes wütend. Wie bitte?
Gemeint ist: Der Anblick einer Statusmeldung auf einem Kopiergerät. Dieses hat einen Papierstau verursacht, der die Ich-Erzählerin veranlasst, die Fäuste zu ballen und «diesen weissen, doofen Klotz» anzustarren. Gemeint ist der Kopierer und manchmal ist das Leben wirklich hart.
Es folgt eine Liste mit weiteren Substantiven und dann … Spannend, oder? Nicht? Aber so geht zeitgenössische deutsche Belletristik. Für den Fall, dass ihr Nachfolgewerk nicht mindestens in die engere Auswahl für einen Buchpreis gelangt, hat die Autorin bereits mit Auswanderung gedroht.
Anmerkung 1. September 2025
Versehentlich ist zunächst eine ältere Version des Blogposts online gegangen, was erst einige Stunden später bemerkt und korrigiert wurde.
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