Wenn der Philosoph Peter Sloterdijk (2024: 164-5) Kultur vor allem aus ihrer Eigendynamik und Feedback-Logik heraus zu erklären versucht, dann steht er vor dem Problem, dass sich jede Eigendynamik irgendwann einmal erschöpft und einer neuen Eigendynamik weicht, die nicht vorherzusagen ist.

Dessen ungeachtet ist das Phänomen der Eigendynamik ein Faktor kultureller Entwicklung, der einer eigehenden Betrachtung wert ist. Zuvor hat schon der Islamologe Bassam Tibi (2017: 190) darauf hingewiesen, dass kulturelle Symbole nicht nur durch äusseren Einfluss, sondern auch durch Eigendynamik ihre Bedeutung verändern.

«History Temple Culture, Korean culture«/ CC0 1.0

Wie kulturelle Eigendynamik unter den Bedingungen marxistisch-leninistischer Ideologie aussieht, hat der Historiker Timothy Garton Ash (1990: 150-1) am Beispiel der Literatur im kommunistischen Ungarn deutlich gemacht. Denn die Zensoren verfügten damals über keine objektiven Kriterien, um entscheiden zu können, wo die Grenzen des Erlaubten liegen.

Die meisten Redakteure und Verleger versuchten daher einzuschätzen, was ihre Vorgesetzten akzeptabel finden. Doch diese versuchten ihrerseits einzuschätzen, was ihre eigenen Vorgesetzten akzeptabel finden, was sich bis an die Spitze fortsetzte und in seiner Eigendynamik und Feed-Back-Logik zu einer umfassenden Selbstzensur führte und damit zu einer Repression, die zunehmend Widerstand heraufbeschwor.

Die Literaten der koreanischen Chosõn-Epoche (1392-1910) wiederum hielten sich vom öffentlichen Leben fern und lehnten jeglichen Brotberuf mit Ausnahme des Lehrers und Erziehers ab (Deuchler 1999: 67-68). Zwar konnten sie von der Literatur nicht leben, doch erlaubte ihnen der Landbesitz ein aristokratisches Leben konfuzianischer Prägung.

Da die Aristokratie ausschliesslich unter sich heiratete, wurde der Ahnenkult zum wichtigsten der vier konfuzianischen Riten und das rituelle Zentrum jedes Clans. Die Eigendynamik des Ahnenkultes führte nun dazu, dass dieser immer aufwendiger und kostspieliger wurde, während die Aristokratie der Entwicklung von Handel und Industrie weitgehend hinterherblickte.

Heute blickt Europa auf manchen Gebieten der Entwicklung in China hinterher. So ist in Shenzhen, wo ein umfassendes G5-Netz und eine innovative Batterieproduktion längst die Weichen für einen technologischen Vorsprung gestellt haben, das autonome Fahren längst Realität, zumal eine autoritäte Staatslenkung europäische Vorstellungen von Datenschutz ablehnt.

Jedes autonome Auto schickt im quirligen Strassenverkehr unentwegt und massenhaft Verkehrsdaten an die Cloud, um dort von einer KI verarbeitet werden. Hohe Datenschutzgesetze verhindern derzeit eine entsprechende Entwicklung in Europa. Datenschutz ist ein hohes Gut. Doch die Eigendynamik der chinesischen Innovationskraft wird den Kontinent bald auf eine harte Probe stellen.


Literatur

Deuchler, Martina. 1999. «Die Literaten der Chosõn-Zeit», in: Korea: Die alten Königreiche, hrsg. von Lulturstiftung Ruhr Essen. München: Hirmer, S. 65-8.

Garton Ash, Timothy. 1990. Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas: 1980-1990. München: Hanser.

Sloterdijk, Peter. 2024. Der Kontinent ohne Eigenschaften: Lesezeichen im Buch Europa. Berlin: Suhrkamp.

Tibi, Bassam. 2017. Islamische Geschichte und deutsche Islamwissenschaft: Islamologie und die Orientalismus-Debatte. Stuttgart: Ibidem.